: „Den Rollator mal ich golden an“
Klaus Becker ist 76 und im Lebensort Vielfalt zu Hause, einem Wohnprojekt vor allem für schwule ältere Männer. Er sagt: „Es kommt ja immer noch etwas Neues“
Protokoll Manuela Heim
Klaus Becker wird 1944 in einer holsteinischen Kleinstadt geboren, die Mutter bleibt nach dem Krieg allein mit vier Kindern. In Marburg, München und Kiel studiert er Medizin und promoviert, beschließt Frauenarzt zu werden. Die erste Stelle findet er in Berlin und zieht von dort weiter an den Kilimandscharo, Tansania, Ostafrika.
Drei Jahre bleibt er, dann geht Becker nach San Francisco und bringt von dort seinen Freund mit nach Berlin. Anfang der 1980er übernimmt er eine Praxis im Wedding, die er 1999 aufgeben muss. Seit 21 Jahren ist Klaus Becker in Rente.
Wenn ich in den Spiegel gucke, morgens, entspreche ich nicht meinem Schönheitsideal. Ich sehe, dass ich alt bin. Das hat nicht irgendwann abrupt angefangen, das ist etwas Schleichendes. Ja, schleichend, das passt gut.
Ich habe mir in den Achtzigern schon einmal Gedanken über Vergänglichkeit und den Tod gemacht – machen müssen. Ich bekam die Diagnose HIV, das hieß damals: Sterben.
Freunde von mir sind gestorben. Ich wollte gern noch zwei Jahre haben. Aber selbst wenn ich sofort tot umgekippt wäre, hätte ich damals sagen können, das war ein volles Leben. Sie müssen sich vorstellen, in den Fünfzigern war der Krieg gerade mal 10 Jahre vorbei, das ist nicht viel. Ich habe mir mit 16 selbst einen Austausch nach Frankreich arrangiert und bin nach Poitiers gefahren. Dort habe ich fürs ganze Leben gelernt: Anderswo funktionieren die Dinge anders, aber sie funktionieren auch.
Zwei Jahre nach der HIV-Diagnose habe ich in den Spiegel geschaut und gedacht, Mensch, du bist ja immer noch da. Ohne die Medikamente, ohne den medizinischen Fortschritt säße ich nicht hier. Und ich war mir dessen immer bewusst. Verdient hatte ich es nicht, das war Glück, gewaltiges Glück.
Meine Arztpraxis konnte ich lange halten, da war ich eingespannt von morgens bis abends und abends bis morgens. Als es mir dann immer schlechter ging, war klar, das geht nicht mehr. Ich habe dann alles durchgespielt: Was mache ich mit der Praxis, kann ich von der Rente leben, was mache ich mit den Angestellten? Und dann bin ich in Rente gegangen. Mit 55. Nicht sehr alt.
Ich habe auf das Loch gewartet. Eine Woche, einen Monat. Aber es kam kein Loch. Ich habe schon immer gemalt, also habe ich mir ein Atelier genommen. Es ging mir auch körperlich besser, die Medikamente wurden ja immer besser.
Aber irgendwann habe ich gemerkt, ich werde wirklich älter. Ich habe damals in Zehlendorf gewohnt, eine schöne Wohnung. Aber sie war im dritten Stock und ich konnte immer schlechter laufen. Und Zehlendorf ist wunderbar, aber da kommt auch nicht mal eben jemand spontan vorbei. Außerdem endete meine Freundschaft, 20 Jahre waren wir zusammen gewesen. 69 war ich da und dachte: Jetzt ist es aus. Vorbei das Leben. Ein Jahr habe ich mich verkrochen.
Aber nee, das ging auch nicht. Also habe ich geschaut, was gibt es, wenn du Ende sechzig bist und unter Leute willst als schwuler Mann. Ich bin dann in eine schwule Sportgruppe und in eine deutsch-französische Gruppe, und dann hörte ich von diesem Haus hier, Lebensort Vielfalt, ein Wohnprojekt vor allem für schwule ältere Männer, mit eigenen Wohnungen, aber auch einer Pflege-WG. Das fand ich toll. Ein Ort, an dem man auch bleiben kann, wenn man nicht mehr weiß, wie man heißt, und an dem man nicht erklären muss, was es bedeutet, als schwuler Mann zu leben. Das Haus wurde damals noch umgebaut, und ich habe mich auf die Warteliste setzen lassen.
Als ich als junger Arzt in Afrika gelebt habe, gab es einen großen Komplex, in dem die Ärzte, alle Angestellten gewohnt haben. Da kannten sich alle, da hat man mal den besucht und mal den. Das war eine tolle Gemeinschaft, aber ohne Verpflichtungen. Das hatte ich im Hinterkopf, als ich vor fünf Jahren hierher gezogen bin. Und so hat es sich für mich auch erfüllt.
Am Eingang zu meiner Wohnung ist ein kleiner Abreißkalender. Jeden Tag reiße ich dort ein Blatt ab. Und wenn meine Nachbarn sehen, dass das Blatt nicht abgerissen ist – einmal war ich verreist, da haben sie mich gleich angerufen. So ist das hier.
Und dann passieren Dinge im Alter, die sind ganz unerwartet. Dass man plötzlich den Handlauf benutzt beim Treppensteigen. Oder dass man sich verliebt. Ja, das kam ganz unerwartet. Ich bin seit fünf Jahren verheiratet. Ja, wirklich! Das erste Mal.
Dass ich jetzt in der Coronakrise zur Risikogruppe gehöre, ist auch unerwartet und neu. Während der Aidskrise gab es die vielen Selbsthilfe- und Unterstützungsgruppen, da war ich sehr aktiv. Ich gehörte zu einer Gruppe von Frauenärzten, die sich speziell um Frauen mit HIV gekümmert haben. Ich war immer bei denen, die Hilfe anboten und gaben. Und nicht bei denen, auf die man Rücksicht nehmen muss. Wenn ich heute bei der Ärztekammer oder beim Gesundheitsamt anrufe und sage, ich bin Arzt, wenn ihr Bedarf habt, ich komme – da kommt keine Reaktion, weil ich zur Risikogruppe gehöre. Das stört mich auch ein bisschen.
Dass ich weniger schmecke und rieche. Dass ich vier oder fünf Lesebrillen brauche, damit ich immer eine habe. Dass ich den Schlüssel immer in die Hand nehme, damit ich ihn nicht vergesse. Dass ich mir in den Mantel helfen lasse, das sind die kleinen, unerwarteten Dinge. Auch da muss ich mich dran gewöhnen.
Wie ich meinen Mann kennengelernt habe? Ja, das passt sehr gut zu dem Thema hier. Ich bin in einer Gruppe schwuler Männer für gemeinsame Aktivitäten. Einmal sind wir auf den Alten Sankt-Matthäus-Friedhof. Die Gebrüder Grimm, Virchow, Hochhuth und vor allen Dingen viele Leute, die an Aids gestorben sind, liegen dort. 2013 war ich im Krankenhaus, ich bin fast gestorben. Und da dachte ich, wenn es so weit ist, dann wäre doch der Sankt-Matthäus-Friedhof was.
Ich habe mit den anderen aus der Gruppe gesprochen und es kristallisierte sich eine Handvoll Menschen heraus, die mitmachen wollten. Der Roland war auch dabei in der Grabgruppe. Er hatte mir gleich gefallen. Wir wollten uns umeinander kümmern, haben wir beschlossen. Vor fünf Jahren waren wir beim Standesamt, seitdem trägt er meinen Namen.
Das mit dem Grab war mir wichtig. Klar, wenn du tot bist, bist du tot. Aber es ist ähnlich wie mit dem Einzug hier im Lebensort Vielfalt: ein Gefühl, angekommen zu sein. Hier gehörst du hin. Das ist ein sehr angenehmes Gefühl.
Mein amerikanischer Freund damals in den Achtzigern, der wollte nicht älter als 40 werden. Er ist ja tatsächlich nur 43 geworden. Aber woher wusste er das? Man muss das Leben doch erfahren. Und wenn es dann Mist war, dann hat man eben das erfahren. Aber es kommt ja immer noch etwas Neues. Manches ist unerfreulich, vieles witzig. Aber alles überraschend. Mir passiert es ja auch das erste Mal, dass ich 76 bin.
Es hängt viel mit der Einstellung zusammen. Es gibt Leute, die sich darüber ärgern, was sie nicht haben. Dazu gehöre ich nicht. Damals nach der kritischen Phase mit HIV, da habe ich mich gefreut, dass ich noch da bin. Ich habe mich nicht geärgert, dass ich HIV habe. Mit dem Alter ist es das Gleiche.
Ich hatte nie Angst vorm Alter. Ich bin jetzt 76 und ich hadere nicht, nein. Man wird alt, so ist es. Und dass man es sieht, das gehört so. Darüber braucht man nicht zu reden. Der Schritt zur Gebrechlichkeit ist noch einmal ein anderer. Nicht nur Hilfe zu nehmen, sondern darauf angewiesen zu sein. Der Schritt zum Rollator, das finde ich ganz schrecklich. Wenn es so weit ist, na gut, dann male ich den golden an. Immerhin.
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