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Der DGB ruft unter dem Motto „1. Mai – Mach dich stark mit uns!“ zu Solidarität, fairen Löhnen und gerechten Arbeitsbedingungen Foto: Stefan Boness

Demos der GewerkschaftenÜber eine Viertelmillion Menschen

Zum 1. Mai demonstrieren bundesweit Hunderttausende – in Köln gegen Jobabbau, in Görlitz für Gerechtigkeit und überall gegen rechte Dominanz.

Michael Bartsch
Von Michael Bartsch und Andreas Wyputta aus Görlitz und Köln

M it hunderten Demonstrationen und Kundgebungen in ganz Deutschland haben die Gewerkschaften am 1. Mai ihre Forderungen nach Zukunftsinvestitionen, fairen Löhnen und einem starken Sozialstaat untermauert. Bundesweit kamen nach Gewerkschaftsangaben rund 310.000 Menschen, im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen allein waren es bei rund 70 Veranstaltungen rund 90.000. In Köln zogen die De­mons­tran­t:in­nen vom Haus des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) am Hans-Böckler-Platz zum zentralen Heumarkt – dort waren es rund 8.000.

Auf der DGB-Bühne auf dem Heumarkt erklärte IG Metall-Vorstand Hans-Jürgen Urban als Hauptredner, Ar­beit­neh­me­r:in­nen dürften und wollten nicht mit „Arbeitsplatzabbau und Einkommensverzicht“ dafür zahlen, dass viele Unternehmen den Wandel hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft „verschlafen“ hätten: „Klimaneutrales Arbeiten, Konsumieren und Leben“ – das sei „die Jahrhundertaufgabe“, vor der nicht nur die deutsche Gesellschaft stehe. Nötig sei dazu „grüner Wasserstoff statt Kohle“ ebenso wie der Umstieg der Autoindustrie auf „Elektro-Antriebe statt Verbrenner“.

Gleichzeitig forderte der IG-Metall-Vorstand „mehr Verteilungsgerechtigkeit“ durch Steuern auf „übergroße Erbschaften, Vermögen und Einkommen über der Millionengrenze“. Überfällig sei „ein Investitionsbooster“, erklärte Urban: „Her mit dem Geld!“ Nötig sei auch eine Stärkung der gesetzlichen Rente, in die künftig auch „Beamte, Freiberufler, Politiker und Selbstständige“ einzahlen sollten – und keine „weiteren Milliarden in kapitalgedeckte Produkte“ zur Alterssicherung.

Hetze gegen Minderheiten hilft nicht gegen kapitalistische Ungerechtigkeiten

Hans-Jürgen Urban, IG-Metall-Vorstand

Auch warnte der Metaller, der als Honorarprofessor in Jena lehrt, vor der erstarkten AfD. Die in weiten Teilen rechtsextreme Partei tarne sich nur als „Anwalt der kleinen Leute“, erklärte Urban. „Wer sich ärgert, ja wer wütend ist über Niedriglöhne, explodierende Mieten und abgehängte Regionen, der sollte nicht nach denen treten, denen es noch schlechter geht“, mahnte er unter starkem Applaus: „Hetze gegen Minderheiten hilft nicht gegen kapitalistische Ungerechtigkeiten.“

Eine Basisarbeit für Frieden sei nötig

Rote Nelken für Alle – traditionelles Symbol für Solidarität und den Kampf um Arbeitnehmerrechte Foto: Matthias Bein/picture alliance

Auch der Vorsitzende und die Geschäftsführerin des DGB in Köln, Witich Roßmann und Judith Gövert, warnten schon bei ihrem Warm-up vor den Rechtsextremen – nicht nur mit Blick auf die im September in NRW anstehenden Kommunalwahlen. Die seien nicht nur „Feinde der Demokratie“, sondern auch „Leugner des Klimawandels“. Um das Leben der Menschen vor Ort zu verbessern, müsse schnell mehr bezahlbarer Wohnraum her. Ein „Skandal“ sei, dass sich „junge Familien, Azubis und Studis“ Wohnen in Köln schlicht nicht mehr leisten könnten, erklärte Gövert.

Dort liegen die durchschnittlichen Preise für Mietwohnungen offiziell bei 12,60 Euro – der Immobilienmakler Engel & Völkers weist bei Neuvermietungen dagegen 16,31 Euro pro Quadratmeter aus. Schon ein WG-Zimmer koste in Köln heute durchschnittlich 583 Euro im Monat, klagten auch Lars Kadelka, in der Region Köln-Bonn Vorsitzender der DGB-Jugend, und seine Co-Vorsitzende Janine Deling. Die Bafög-Wohnkostenpauschale liege dagegen bei nur 360 Euro – und einem Auszubildenden im ersten Lehrjahr blieben bei einer Ausbildungsvergütung von 680 Euro nicht einmal 100 Euro im Monat für „alles, was man zum Leben braucht“.

Wie der Metaller Urban blickte auch Kölns DGB-Chef Roßmann skeptisch auf die noch mit der alten Bundestagsmehrheit und damit auch mit Stimmen der Grünen beschlossenen unbegrenzten Rüstungsausgaben. Vor Ort nötig sei eine „Basisarbeit für den Frieden“ – und in Köln bedeute das eine Fortsetzung der Städtepartnerschaft mit der chinesischen Hauptstadt Peking: „Wer sich kennt und schätzt“, rief Roßmann, „schießt nicht aufeinander.“

Octavian Ursu (CDU) Oberbürgermeister von Görlitz spricht auf der Kundgebung des DGB Foto: Michael Bartsch

Thema waren auch die drohenden Arbeitsplatzverluste beim Kölner Autobauer Ford. Nach dem Willen von Ford-Deutschlandchef Marcus Wassenberg sollen dort weitere 2.900 tarifgebundene Arbeitsplätze wegfallen – dabei hatten sich Geschäftsführung und Betriebsrat schon 2023 auf den sozialverträglichen Abbau 2.300 Jobs geeinigt. Bei Ford in Köln würden dann weniger als 9.000 Menschen arbeiten – noch Ende des vergangenen Jahrzehnts waren es noch knapp 20.000.

Es sei „ein Offenbarungseid, was sich die Ford-Zentrale da erlaubt“, kritisierte deshalb IG-Metall-Vorstand Urban. Jetzt stehe die Urabstimmung an, die im Kampf um die Arbeitsplätze unbefristete Streiks möglich machen wird. „Zeigt euch solidarisch und kampfbereit“, appellierte Urban nicht nur an die Ford-Belegschaft, sondern alle Kölner:innen.

Drohende kündigungswelle bei Ford

Hintergrund der drohenden Kündigungswelle ist der Umstieg auf die Elektromobilität. Ford hatte die Produktion des Verbrenner-Klassikers Fiesta, der jahrzehntelang in Köln gebaut wurde, 2023 eingestellt. Doch die stattdessen hergestellten hochpreisigen Elektromodelle Explorer und Capri verkaufen sich nur schleppend – ihre Einstands-Listenpreise beginnen bei satten 42.500 Euro. Der Betriebsrat wirft der Geschäftsführung deshalb falsche Produktplanung vor: Offenbar wolle sich Ford auf die Produktion von relativ wenigen, aber teuren und damit renditenstarken Autos konzentrieren und den Massenmarkt erschwinglicher Einstiegsmodelle Herstellern etwa aus China überlassen.

Schlicht „asozial“ sei das Vorgehen des Ford-Managements, kritisierte deshalb Betriebsratschef Benjamin Gruschka. Aktuell liefen in Köln nicht mehr wie zu Fiesta-Zeiten 2.000, sondern nur noch 500 Fahrzeuge am Tag vom Band. „Von der Idee Henry Fords, bezahlbare Fahrzeuge zu bauen, sind wir weit entfernt“, meinte Gruschka. Dabei könne die Produktion „der teuren Autos nicht all die Werke auslasten, in denen wir seit Jahren arbeiten“, hatte der Sprecher der IG Metall bei Ford, David Lüdtke, in der taz schon im November geklagt – schließlich sollen europaweit insgesamt sogar 4.000 Stellen gestrichen werden.

Doch Ford will seinen Sparkurs offenbar mit Härte durchsetzen. Wie erst vor einer Woche bekannt wurde, plant der Autobauer, Teile seines Werksgeländes im Kölner Norden zu verkaufen. Außerdem hat der US-Mutterkonzern eine sogenannte Patronatserklärung aus dem Jahr 2006, mit der Ford für die Schulden seiner deutschen Tochter gebürgt hat, im März gekündigt. Zwar gab es im Gegenzug eine Finanzspritze von 4,4 Milliar­den Euro – doch die Verbindlichkeiten von Ford Deutschland liegen – auch durch den kosten­intensiven Umstieg auf die schlecht laufende Elektromobilität – bei 5,8 Milliarden.

Selbst eine Insolvenz der Deutschland-Tochter von Ford ist mit Wegfall der Patronatserklärung deshalb denkbar. Hinfällig wäre damit auch der Schutz vor betriebsbedingten Kündigungen, den Geschäftsführung und Betriebsrat 2023 im Gegenzug zum vereinbarten Stellenabbau der ersten 2.300 Jobs vereinbart hatten. „Jetzt drohen sie der gesamten Belegschaft mit der Insolvenz“, warnte Beriebsratschef Gruschka. „Das wäre der Super-GAU.“

Auch Görlitz zeigt die rote Flagge

Zwar richtete der DGB seine zentrale Maikundgebung in der Europäischen Kulturhauptstadt Chemnitz aus – doch besonders spannend war ein Blick nach Görlitz an der Neiße, wo Vielfalt und politische Mischung der Veranstaltung ein besonderes Profil gaben. Unter dem Motto „Mach dich stark – mit uns“ zog ein breites Bündnis vom Hauptbahnhof zur Wiese zwischen Gerhart-Hauptmann-Theater und der alten Kaisertrutz. Hunderte Besucher der verschiedensten Stände nahmen von einem knappen Dutzend AfD-Anhänger kaum Notiz, die in etwa hundert Meter Entfernung auf der gegenüberliegenden Straßenseite etwas ratlos herumstanden.

Dieses Bild trügt allerdings. Diese DGB-Maidemo fügte dem schillernden Bild einer Stadt politischer Kontraste eine weitere Facette hinzu. Bei der Bundestagswahl im Februar ragten die Spitzenergebnisse der AfD im Wahlkreis Görlitz noch aus dem ostdeutschen und sächsischen blauen Meer heraus. Die so genannte Alternative holte 46,7 Prozent bei den Zweitstimmen, der Bundesvorsitzende Tino Chrupalla gewann den Wahlkreis mit 48,9 Prozent. Zwei Bundestagswahlen zuvor hatte Chrupalla 2017 schon dem im selben Jahr zum sächsischen Ministerpräsidenten gewählten Michael Kretschmer (CDU) seinen Stammwahlkreis abgenommen.

Andererseits setzte sich der Musiker und damalige CDU-Landtagsabgeordnete Octavian Ursu 2019 in der Stichwahl um das Oberbürgermeisteramt gegen den AfD-Bewerber Sebastian Wippel durch. Die Stadt war und ist auch im Wortsinn eine Brückenstadt für die deutsch-polnische Verständigung und förderte früh den Europa­gedanken. Festivalgründungen wie „Europera“, die Bewerbung als Kulturhauptstadt Europas 2010 und der rege Einkaufs- und Touristenverkehr über die Neißebrücken sprechen dafür.

Bei Ford sollen insgesamt 2.900 tarifgebundene Arbeitsplätze wegfallen

Aktuell belasten allerdings die verschärften deutschen Grenzkontrollen das Verhältnis zur polnischen Stadt Zgo­rze­lec jenseits der Neiße. Der polnische Bürgermeister beklagte sich über lange Warteschlangen, die eine deutliche Behinderung darstellen. Sein deutscher Kollege Ursu bestätigt diese Verstimmung, meint aber auch, die polnische Seite zeige zunehmend Verständnis für deutsche Sicherheitsinteressen.

Freude über noch nie dagewesene Resonanz

Der Veranstalter DGB freut sich in diesem Jahr über eine Resonanz, die noch nie so gut gewesen sein soll. Trotz oder wegen der starken AfD. Die hört man aus Biertischgesprächen aber gelegentlich heraus. „Jetzt werden sie gleich rufen, die AfD müsse weg“, bemerkt ein älterer Herr. „Dabei ist das doch die einzige Partei, die etwas macht!“ Er scheint nicht zu wissen, dass die AfD gegen den Mindestlohn agitiert. Nicole Scheibe vom DGB-Kreisvorstand bekennt daraufhin, gerade deswegen könne sie gar nicht anders, als weiterzukämpfen. „Ich geben nicht auf!“

Sie sagt die Redner an. Dass der Oberbürgermeister am ersten Mai spricht, hat in Görlitz Tradition. Octavian Ursu bestätigt im Gespräch zwar die AfD-Dominanz und die schwierige Görlitzer Gemengelage. In seiner Ansprache aber geht er auf die nicht ein, bleibt eher konventionell bei Gewerkschaftsthemen. Ein typischer CDU-Appell an Sozialpartnerschaft, an Verständnis und ein Miteinander von Betriebs- und Personalräten mit „verantwortungsbewussten Unternehmern“, die es glücklicherweise in der Stadt auch gebe.

Bleibt das Echo hier noch verhalten, füllt sich der Platz vor der Rednertribüne plötzlich, als Fridolin vom Bündnis „Klare Kante“ spricht. Ein antifaschistisches Bündnis, das im Büro des Stadtverbandes der Linken und sitzt und sich über ebenso großen Zulauf freuen kann wie die auch in Görlitz wiedererstarkte Linke. Wie seine Nachfolgerinnen auch spricht er die drohende Erosion zivilgesellschaftlicher Strukturen im Zuge der laufenden Haushaltberatungen im Sächsischen Landtag an.

Was die Minderheitskoalition von CDU und SPD plant, geht in eine ähnliche Richtung wie auf Kreis- und Kommunalebene bereits im Gange. Demokratieförderprogramme werden gekürzt, Vereine und Institutionen ausgetrocknet. Man dürfe nicht rechte Gewalt beklagen und dann staatlicherseits wegsehen, mahnte Fridolin. „Es ist höchste Zeit, dass der Staat handelt!“ In Sachsen müsse endlich das Demokratiefördergesetz kommen. Viel Beifall brandete auf, als er Bundestagsparteien vorwarf, inaktiv gegen rechts zu sein, sich aber zur politischen Mitte zu zählen.

Es blieb ausgesprochen friedlich

Monique Hänel vom Bündnis „Görlitz bleibt bunt“ verwies auf die jüngste Statistik der Opferberatung RAA zu rechter Gewalt in Sachsen. Wenn diese Beratungsangebote eingeschränkt, soziale Orte oder Orte der Demokratie geschlossen werden und Strukturen zerbröseln, gingen Fluchtorte und Schutzräume verloren. „Wer jetzt kürzt, zerstört die Zukunft!“ Der gesellschaftliche Zusammenhalt würde weiter schwinden.

Von feministischer Seite kam der Hinweis, dass der Männerüberschuss in der Lausitz durch Wegzug fähiger junger Frauen auch tendenziell eine Radikalisierung dieser einsamen Männer begünstige. Für eine von Abschiebung bedrohte behinderte Frau wurden Spenden gesammelt.

Bei aller Leidenschaft blieb dieser sonnige Mainachmittag aber ausgesprochen friedlich und gesellig. Die wenigen Polizisten, die überhaupt zu entdecken waren, mussten nirgendwo einschreiten.

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