Demonstrationen nach Massakern an Drusen: Solidarisch mit Suwaida
Hunderte fordern in Berlin Schutz für die drusische Minderheit in Syrien. Die Proteste zeigen auch die Zerrissenheit der deutsch-syrischen Diaspora.

„Ich bin Rettungssanitäterin und Sozialarbeiterin. Ich helfe Menschen in Not. Aber meiner Familie in Suwaida kann ich gerade nicht helfen“, sagt sie. „Ich fühle mich hilflos.“ Sie heißt Silva Fakher und ist vor zehn Jahren, mit Anfang 20, nach Berlin gekommen, als Einzige aus ihrer Familie, erzählt sie. Nachdem es Mitte Juli die ersten Nachrichten von Gewalttaten aus Suwaida gegeben hatte, habe sie ihre Angehörigen und Freunde tagelang nicht erreicht. Es gab kein Netz und keinen Strom. Und die Lage sei weiter unsicher. „Meine Welt geht gerade unter“, sagt Fakher.
Seit fast zwei Wochen demonstrieren in Berlin fast täglich Menschen für die Rechte der Drus*innen in der Region Suwaida rund um die gleichnamige Stadt im Süden Syriens. Am 13. Juli waren Kämpfe zwischen der drusischen Minderheit und sunnitischen Beduinen ausgebrochen. Zuvor hatten Menschenrechtsaktivist*innen von Massakern berichtet, für die sie auch die Armee des Präsidenten verantwortlich machen. Mehr als 1.300 Menschen wurden demnach getötet, darunter etwa 200 durch „Hinrichtungen auf der Stelle“. Die israelische Armee bombardierte Ziele im Süden Syriens und auch in Damaskus, mit dem erklärten Ziel, die Drusen zu schützen.
Am Samstag vor einer Woche verkündete der US-Sondergesandte für Syrien eine Waffenruhe zwischen Israel und Syrien, die von den USA und der Türkei unterstützt wird. Sie scheint weitgehend zu halten, ein wenig hat sich die Lage in Suwaida beruhigt. Doch die Versorgung ist prekär. Es gibt keinen Strom, kein Handy-Netz, kaum Wasser oder Lebensmittel. Über 145.000 Menschen sind laut den Vereinten Nationen vertrieben. Von der Gewalt betroffen sind schätzungsweise 220.000 Menschen.
Familienangehörige verloren
Vor dem Auswärtigen Amt versammeln sich am Freitagnachmittag laut Polizei knapp 300 Menschen. Einige der Demo-Teilnehmer*innen haben Familienangehörige in Suwaida verloren, erzählen sie, diese sollen teils in ihren eigenen Häusern ermordet worden sein. Dörfer seien abgebrannt. Die Menschen seien ohne Gesundheitsversorgung, es mangele an allem.
Mit den Demos wollen sie erreichen, dass die Bundesregierung die Massaker als Völkermord anerkennt. Sie fordern humanitäre Versorgung, sichere Fluchtkorridore über Jordanien, dass Deutschland Menschen aus der Region aufnimmt und eine Distanzierung der Bundesregierung von der syrischen Übergangsregierung. Und sie wollen, dass eine unabhängige Kommission aufklärt, was genau in Suwaida passiert.
Einer der Redner bei der Auftakt-Kundgebung ist Tareq Alaows, flüchtlingspolitischer Sprecher von Pro Asyl, der selbst Familie in Suwaida hat. Zwei seiner Onkel und ein Cousin seien dort ermordet worden, sagt er. Am Ende seiner Rede zieht er einen Rasierapparat aus der Tasche. „Auch wenn sie uns ihre Mörder schicken, auch wenn sie uns hier in Deutschland bedrohen: Sie können uns unsere Würde nicht nehmen, sie können uns unsere Existenz nicht nehmen“, ruft er und beginnt, sich Teile seines Barts abzurasieren.
Mit dieser Geste spielt er an auf Berichte und Videos, nach denen die Angreifer älteren Drusen die Bärte gewaltsam abgeschnitten haben sollen, um sie zu demütigen. Die Demoteilnehmer*innen antworten ihm mit zustimmenden Rufen, Sprechchören und Tanz, viele filmen die Szene.
Scherensymbol als Drohgeste
Die Schere als Symbol taucht inzwischen viel in Social Media und auch auf Demos in Deutschland auf. Bei Kundgebungen in der vergangenen Woche in Düsseldorf und am Samstag vor einer Woche in Berlin vor dem Roten Rathaus sollen Demonstranten mit den Händen das Scherenzeichen gezeigt haben, um Drus*innen zu verhöhnen und zu bedrohen.
Der Verein Democ, der demokratiefeindliche Bewegungen beobachtet und analysiert, hatte Videos von der Kundgebung in Berlin veröffentlicht, die unter dem Motto „Aktuelle Angriffe auf Syrien“ angemeldet worden war. Teilnehmer*innen hätten dort Parolen gegen Drusen, Alawiten und Israel skandiert und zu Mord und Vergewaltigung aufgerufen, schreibt Democ. Die Polizei, die zunächst keine besonderen Vorkommnisse erkennen mochte – wohl auch wegen zu wenig sprachkundigen Beamt*innen – wertet nun Videomaterial aus.
Auf der Demo für „Solidarität mit Suwaida gegen den Völkermord“ schwenken Teilnehmer*innen am Freitag auch golden oder silbern verzierte Kaffeekannen und schenken sich gegenseitig Kaffee in kleinen Tassen aus. „Die Beduinen haben gesagt, sie wollen erst wieder Kaffee trinken, wenn sie alle Drusen umgebracht haben“, erklärt eine der Ordner*innen. Die Kaffeekannen seien ein Zeichen, dass sie sich nicht entwürdigen und angreifen ließen.
Vom Auswärtigen Amt zieht die Demo unter den Linden entlang zum Bundeskanzleramt. Omar Al-Kadamani, einer der Hauptredner und Mitorganisator, richtet sich vom Lautsprecherwagen aus mehrmals an Passant*innen, um ihnen die Anliegen der Demo zu erklären. Auf beiden Seiten laufen Ordner*innen, die einen Zettel mit „Ask me“ (dt. „Frag mich“) auf ihre neongelbe Weste geklebt haben.
„Ich bin als Druse geboren – aber offiziell gebe ich immer an, dass ich Atheist bin“, sagt ein Teilnehmer. Normalerweise gehe er nicht auf Demos, und im Alltag spreche er kaum über Politik, vor allem nicht mit anderen Syrier*innen. „Wir haben teils sehr unterschiedliche Ansichten, etwa zu Israel oder der aktuellen Politik“, sagt er. „Und ich merke auch Ablehnung, wenn ich zum Beispiel ein Schawarma kaufe und auf arabisch bestelle. Sie hören an meinem Akzent, dass ich aus Suwaida komme. Ich merke direkt an ihrem Tonfall und ihren Blicken, dass sie mich weniger freundlich behandeln.“ Für Syrien hoffe er auf Frieden und Demokratie. „Ich wünsche mir, dass es ein Land wird, in das Touristen gern reisen“, sagt er.
Enttäuschung in der Community
Die Demonstration zeigt auch, wie gespalten, uneinig und teils zerrissen die syrische Diaspora in Deutschland ist. Ein Demoteilnehmer sagt, dass er enttäuscht sei von der Politik Deutschlands und der EU, die das Regime schrittweise normalisiere. Und von den Versammlungen, die in Deutschland den aktuellen Machthaber Ahmad Al-Sharaa unterstützen. Enttäuscht sei er aber auch von Deutsch-Syrer*innen, die sich gar nicht oder nur sehr zurückhaltend und scheu zu den Massakern in Suwaida äußerten. Er studiert Elektrotechnik und hat sich für Integration engagiert.
„Wir haben im Dezember alle zusammen den Sturz von Assad gefeiert“, sagt er. Viele dächten immer noch, dass sich die neuen Machthaber von innen ändern ließen, dass sich mit der Zeit die Demokratie durchsetze. „Aber wir haben jetzt gesehen, wozu diese Regierung fähig ist. Wir haben null Vertrauen. Der neue Islamo-Faschismus von Al-Sharaa ist noch schlimmer, weil er keine Landesgrenzen kennt.“
Der Erfolg der Islamisten in Syrien könne islamistische Bewegungen in Nachbarländern ermutigen. „Und meiner Meinung nach auch in Europa. Das sieht man jetzt schon auf den Straßen“, meint der Student. „In Deutschland feiern Menschen jetzt Al-Sharaa. Das sind Islamisten, und auch vor solchen Menschen sind wir vor zehn Jahren geflohen“, betont er. Normalerweise sei er kein Fan von Kai Wegners Politik. „Aber dass er so klare Worte gefunden hat, das finde ich gut“, sagt er. Der Regierende Bürgermeister (CDU) hatte gefordert, dass diejenigen, die Gewalt verherrlichten, abgeschoben werden sollten. Die CDU will aktuell auch das Demonstrationsrecht in Berlin verschärfen und Versammlungen, die die „öffentliche Ordnung“ gefährden, untersagen.
Der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) warnt vor islamistisch motivierten Angriffen in Deutschland auf Minderheiten. „Hier lebende Islamisten rufen derzeit zur Gewalt gegen aus dem Nahen Osten geflohene Minderheiten auf – bedroht werden insbesondere Drusen“, sagte der BDK-Vorsitzende Dirk Peglow dem „Tagesspiegel“. Die Verherrlichung von Gewalt und die Anstiftung zu Straftaten sei eine ernsthafte Bedrohung für die öffentliche Sicherheit. Öffentliche Äußerungen aus dem islamistischen Spektrum könnten Einzelpersonen "zu schwersten Straftaten motivieren“. Seit Beginn des Bürgerkriegs 2011 sind Hunderttausende Syrer*innen nach Deutschland geflohen, darunter auch Drus*innen. Die Drusen sind eine eigenständige, ursprünglich aus dem schiitischen Islam entstandene religiöse Minderheit. Sie leben heute vor allem in Syrien, Libanon und Israel. (dpa)
Neben dem Studenten geht ein junger Mann mit einer gefalteten Deutschlandfahne in der Hand. „Die Veranstalter lassen sie mich nicht ausrollen“, sagt er und zeigt auf einen Pin an seinem Kragen, an dem sich die israelische und die deutsche Flagge kreuzen. Der sei ihm zumindest erlaubt. „Ich habe drusische Vorfahren und ich will meine Regierung auffordern, sich für die Sicherheit der Drusen einzusetzen“, sagt er. Er versuche nun, seinen Vater aus Suwaida zu evakuieren. „Gerade wir hier in Deutschland haben eine besondere Verantwortung, wenn Völkermord droht.“ Er sei SPD-Mitglied, weil „die Partei Islamismus kaum auf dem Schirm hat. Ich denke, ich kann da viel Wissen einbringen“, sagt er.
Abiturprüfungen in Syrien
Eine Gruppe junger Männer sagt, dass auch sie den Sturz von Assad gefeiert hätten. Sie leben seit rund 10 Jahren in Berlin, sagen sie, und engagieren sich gemeinsam politisch und leisten mit einem Verein auch politische Bildung. „Wir hatten Hoffnung auf einen Dialog, an dem auch die Diaspora beteiligt ist“, sagt einer. „Denn auch die spricht nicht mit einer Stimme.“ Ihr Verein habe viele Nachrichten mit Ideen und Anregungen an die syrische Übergangsregierung geschickt, darauf aber keine Antwort bekommen. „Mittlerweile sprechen wir wieder von einem Regime“, sagt er. „Das ist nicht das, was wir uns für Syrien wünschen.“
Was nun an der Küste und im Süden geschehen sei, beeinflusse auch die syrische Community in Deutschland. „Wenn auch hier zu Hass gegen Drusen aufgerufen wird, ist das ein Problem“, sagt er. „Denn Islamismus passt nirgendwo hin. Nicht nach Europa. Und auch nicht in den Nahen Osten.“
„Gerade sind in Syrien Abiturprüfungen. Die Jugendlichen in Suwaida können nicht teilnehmen und dann auch nicht studieren“, sagt Rettungssanitäterin Silva Fakher. Mit ihren Gedanken sei sie die ganze Zeit bei ihrer Familie. Auch Student*innen in Damaskus seien angegriffen worden, einige vielleicht auch entführt, erzählt sie. Demonstrieren in Berlin reicht ihr nicht. „Ich habe mich als Freiwillige gemeldet bei den Maltesern, bei Ärzten ohne Grenzen, beim Technischen Hilfswerk, überall“, sagt sie. Hier könne sie sich gerade sowieso nicht auf die Arbeit konzentrieren, „bei den schrecklichen Dingen, die dort passieren. Ich bin bereit, vor Ort zu helfen. Aber noch habe ich keine Rückmeldung.“
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