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Demonstrationen in BerlinIm Nahost-Konflikt verfangen

Uta Schleiermacher

Kommentar von

Uta Schleiermacher

2025 gab es im Schnitt 2,5 Demos mit Nahost-Bezug pro Tag in Berlin. Das zeigt, welches Potenzial die Stadt hätte, konstruktiv am Thema zu arbeiten.

Berlin könnte viel mehr bieten als nur eine Bühne für Protest: Palästinaflagge vor dem Fernsehturm Foto: Stefan Boness/Ipon

D as Demogeschehen in Berlin hat sich im Nahostkonflikt verhakt. Denn während die Anzahl der angemeldeten Demonstrationen im nun fast vergangenen Jahr insgesamt zurückgegangen ist, haben Kundgebungen und Demos mit „Bezug zu Nahost“ zugenommen. Insgesamt zählte die Polizei zwischen dem 1. Januar und dem 1. Dezember 2025 in der Hauptstadt rund 6.501 Demonstrationen und Versammlungen. Im Vorjahr, also 2024, waren es insgesamt 7.212 und damit noch rund 700 Versammlungen mehr.

Von den Demonstrationen 2025 hatten 865 Demos einen sogenannten Nahostbezug, laut Polizei sind das 100 mehr als im Vorjahr. Das sind rund 2,5 angemeldete Versammlungen pro Tag. Zwei Drittel (570) ordnet die Polizei als propalästinensisch ein und ein knappes Viertel (193) als proisraelisch. 102 der Versammlungen mit Nahostbezug waren laut Polizei nicht eindeutig zuzuordnen.

Damit überlagert die Debatte über den Nahostkonflikt inzwischen viele andere politische Themen in Berlin, wie etwa die Kritik an Mietenpolitik. Für die oben genannte Zählung beruft sich die Polizei nämlich nur auf das von den An­mel­de­r*in­nen angegebene Anliegen. Doch tatsächlich ist das Thema auf der Straße noch präsenter: Denn die Nahostdebatte bestimmt inzwischen auch vermehrt Demos, die eigentlich unter einem ganz anderen Thema angemeldet worden sind.

Die Nahostdebatte bestimmt inzwischen auch Demos, die eigentlich unter einem ganz anderen Thema angemeldet sind

Zusätzlich zu den von der Polizei gezählten Versammlungen dominierten Parolen und Banner mit Palästinabezug auch Demos etwa zum Tag gegen Gewalt gegen Frauen Ende November oder gegen Polizeigewalt Mitte Dezember. Angeblich propalästinensisch agierende Gruppen kapern damit regelrecht Demonstrationen, die eigentlich unter anderem Anliegen laufen. Und selbst bei Versammlungen wie etwa dem Schulstreik gegen Wehrpflicht ist das Thema präsent.

Meinungsäußerung trifft auf Widerspruch

Diese Zahlen widerlegen die Behauptung, dass die palästinasolidarische Bewegung in Berlin zum Schweigen gebracht und unterdrückt wird. Es handelt sich wohl eher um das alte Missverständnis, dass die eigene Äußerung nur dann frei geäußert werden könne, wenn sie unwidersprochen bleibt, und dass auch Hass und Hetze unter die Meinungsfreiheit fallen müssen.

Viele, die sich vermeintlich für die palästinensische Sache einsetzen, tun das auf eine destruktive und selbstbezogene Art

Klar, wo Protestierende auf Polizeigewalt treffen, muss das untersucht werden. Doch De­mons­tran­t*in­nen tragen ein breites Spektrum an Meinungsäußerungen auf die Straße. Und wer will, kann im Prinzip jede Woche an Vorträgen, Erfahrungsaustausch, Diskussionen und Workshops teilnehmen, die den Konflikt besprechbar machen wollen. Die Debatte über den Konflikt äußert sich nicht zuletzt auch an Häuserwänden, an denen wie in einem Wettbewerb Aussagen zum Konflikt gesprayt, übermalt, abgeändert und kommentiert werden.

Die Graffiti offenbaren aber auch, dass die Debatte mit Nahostbezug sich nicht nur im Demokalender festgesetzt hat, sondern auch in eigenen Befindlichkeiten gefangen bleibt. Denn in diesem Jahr tauchte vermehrt statt „Free Palestine“ auch der Spruch auf: „Palestine will set us free“ (Palestina wird uns befreien). Hier kippt ein politisches Anliegen in eine quasireligiöse Erlösungssehnsucht.

Das Problem liegt also zunehmend darin, dass viele, die sich vermeintlich für die palästinensische Sache einsetzen, das auf eine destruktive und selbstbezogene Art tun, die jede Selbstkritik schon im Vorfeld verweigert. Dabei hätten gerade Ber­li­ne­r*in­nen vor dem Hintergrund der Geschichte dieser Stadt, den hier lebenden Communitys und der Menge an Veranstaltungen das Potenzial, sehr konstruktiv in die Debatte einzusteigen.

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Uta Schleiermacher
Redakteurin für Bildung und Feminismus in der taz-Berlin-Redaktion
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