Demonstranten im Gezi-Park: Erste Risse im Bündnis
Radikal oder gemäßigt? Basisdemokratie oder Delegierte? Maximal- oder Minimalforderungen? Das Protestbündnis ist uneins, wie der Widerstand fortgesetzt werden soll.
ISTANBUL taz | Die ganze Nacht hindurch, bis vier Uhr morgens, haben sie diskutiert. Am Samstagvormittag dann verkündeten sie offiziell das, was für die große Mehrheit der Demonstranten im Gezi-Park ohnehin außer Frage stand: Sie werden den Park nicht räumen und den Widerstand fortsetzen.
„Wir werden mit der selben Dynamik und der Kraft, die wir aus unserem bisherigen Kampf geschöpft haben, und die sich über das ganze Land, bis in die Welt hinaus ausgebreitet hat, unseren Widerstand gegen jegliche Form von Ungerechtigkeit und Benachteiligung fortsetzen“, heißt es in der im Internet veröffentlichten Erklärung des Protestbündnisses Taksim-Solidarität.
Der offiziellen Stellungnahme gingen am Vortag stundenlange, erhitzte Diskussionen zwischen den im Gezi-Park versammelten Aktivisten voraus. Das Ergebnis des in der Nacht auf Freitag in Ankara stattgefundenen Treffens zwischen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und Vertretern der Protestbewegung, die von der in- und ausländischen Presse merkwürdigerweise als „Einlenken der Regierung“ gefeiert wurde, empfinden sie hier als Hohn: „Was bitte ist daran ein Zugeständnis, dass Tayyip das Gerichtsurteil zum Park abwarten will? Haben wir hier etwas verpasst, leben wir etwa in keinem Rechtsstaat mehr? Müssen wir unseren Regierenden nun schon dankbar dafür sein, dass sie Gerichtsbeschlüsse akzeptieren will?“, ereifert sich eine junge Frau.
„Erdogan lacht uns aus“
Sie spricht auf einem der parellel laufenden sieben Diskussionsforen. Die Menge applaudiert. Hunderte von Aktivisten sind am Freitagnachmittag zusammen gekommen. Eigentlich wollten sie das weitere Vorgehen diskutieren, eine gemeinsame Reaktion auf die letzten Forderungen der Regierung finden und die Zukunft des Widerstandes organisieren.
Dazu kommt es aber kaum. Statt konkrete Vorschläge zu liefern, wollen alle hier ihrer Wut Luft lassen. Im Minutentakt rattert ein Aktivist nach dem anderen runter, was hier ohnehin allen bekannt ist: Wie sehr sich die Regierung in den letzten Wochen schuldig gemacht hat, wie viel die Protestbewegung schon erreicht hat, und warum es reicht mit Erdogan, ein für alle mal.
Am Ende bekräftigt jeder das, worüber sich alle einig sind: dass ein Rückzug aus dem Park nicht in Frage kommt. „Keine einzige unserer Forderungen wurde auch nur in Erwägung gezogen“, sagt ein junger Aktivist. „Erdogan lacht uns aus und bereitet schon den nächsten Angriff auf uns vor. Wenn er sagt, er will bis Samstag eine Antwort, dann meint er damit doch nur, er will bis dahin die Entscheidung zum Rückzug aus dem Park!“
Die Protestbewegung ist geeint, könnte man also meinen. Und doch machen sich im Laufe der endlosen Gespräche auch die ersten Reibungen und Konflikte innerhalb des Bündnisses bemerkbar. Es ist wohl der allgemeinen Erschöpfung zuzuschreiben, dass schon Kleinigkeiten wie überzogene Redezeiten zu lautstarken Auseinandersetzungen führen.
Es wurde versäumt, sich Strukturen zu schaffen
Deutlich wird aber auch, dass das äußerst heterogene und aus einer Vielzahl von unterschiedlichen Interessengruppen bestehende Protestbündnis es in den letzten Wochen versäumt hat, sich Strukturen zu schaffen, die notwendig wären, um die Zukunft des Widerstandes zu organisieren und Entscheidungen so zu treffen, dass alle sich einbezogen und repräsentiert fühlen.
Noch nicht mal darüber, welche Form von Demokratie sie wollen, scheinen sie sich Gedanken gemacht zu haben. So führt etwa der naheliegende Vorschlag, aus den verschiedenen Gruppen Delegierte zu wählen, die eine gemeinsame Erklärung formulieren sollen, zum vehementen Einspruch einiger Aktivisten. Irgendwann tritt eine kleine, zierliche Frau hervor und versucht in mehreren Anläufen die Vorzüge der repräsentativen Demokratie zu erklären, wird dabei aber immer wieder unterbrochen von denen, die dadurch ihre Teilhabe an der Sache gefährdet sehen.
Auf den Hinweis einiger Bündnissprecher, dass man schließlich am nächsten Tag Ergebnisse vorlegen müsse und deshalb effiziente Entscheidungsfindungsprozesse notwendig seien, reagiert ein junger Mann mit Bürstenschnitt und Hornbrille mit einem Wutausbruch: „Wir sollen uns beeilen, nur weil Sultan Tayyip Antworten fordert? Wir haben 18 Tage auf Antworten von ihm geantwortet! Die einzige Antwort, die wir ihm morgen geben sollten, ist: Tayyip, wir haben die Schnauze voll von deiner Arroganz, von deinen Allüren, von deinen Befehlen, wir reden dann wieder mit dir, wenn du Rechenschaft für deine Verbrechen ablegst!“
Todesnachricht aus Ankara
Der Moderator unterbricht die Diskussion, um eine gerade eingetroffene Todesnachricht aus Ankara zu verkünden. Ethem Sarisülük, ein 26-jähriger Demonstrant, der am 1. Juni in der türkischen Hauptstadt von der Polizei angeschossen wurde, ist seinen Verletzungen erlegen. Die Nachricht heizt die ohnehin angespannte Stimmung weiter an, immer mehr Uneinigkeit über den Grad des Widerstandes und das Ausmaß der Forderungen kommt zum Ausdruck.
Als gemäßigt gilt schon, wer nicht gleich den Sturz der Regierung und einen Systemwechsel fordert, sondern nur das Abtreten der für die Polizeieinsätze in den verschiedenen Städten unmittelbar verantwortlichen Gouverneure und Ermittlungsverfahren gegen gewalttätige Polizisten. Als eine junge, eloquente Frau, die für den Notfall ihren Namen und ihre Blutgruppe auf ihren Arm geschrieben hat, Entsprechendes äußert, wird sie von einem älteren Mann aus der Runde unterbrochen: „Unsinn! Wir brauchen einen kompletten Systemwechsel! Alles andere sind doch nur kosmetische Veränderungen!“
Immer wieder sind es die Älteren in der Gruppe, die sich besonders aufgebracht und radikal äußern. Mehrere Frauen mittleren Alters ergreifen das Wort und versichern mit vor Erregung zitternder Stimme, dass sie erst dann weichen werden, wenn diejenigen, die ihren Kindern Gewalt angetan haben, zur Rechenschaft gezogen werden.
Die Gefühle der hier so präsenten Elterngeneration bringt am Treffendsten ein weißhaariger Mann um die 60 zum Ausdruck, der sich als „Vertreter der Region Mardin“ vorstellt, einer Region also, die wie keine andere in der Türkei für das Zusammenleben verschiedener religiöser und kultureller Minderheiten steht: „Ich stehe hier für all die Kurden, die Christen, die Aramäer in meinem Heimat, all diejenigen, die vom türkischen Staat unterdrückt wurden und werden, aber vor allem stehe ich hier als Vater“, sagt er.
„Unsere Kinder haben uns eines Besseren belehrt“
„Wir Väter, die in der 68-er Bewegung aktiv waren, die bis in die neunziger Jahre hinein den Kampf für die Freiheit teuer bezahlt haben, die eingesperrt, bedroht und gefoltert wurden. Wir hatten solche Angst davor, dass unsere Kinder das Gleiche durchmachen, dass wir sie unpolitisch erzogen haben, dass wir ihnen vom Widerstand abgeraten haben. Aber unsere Kinder haben uns eines Besseren belehrt, sie haben uns den Glauben an eine bessere Zukunft wiedergegeben. Wir sind ihnen schuldig, sie weiter zu unterstützen und weiter zu kämpfen!“
Nachdem auch die Sprecher der feministischen Frauenbewegung, der LGBT-Aktivisten, der „Antikapitalistischen Muslime“ und anderer Gruppen im Park dem Rest ihre Sicht der Dinge mitgeteilt haben, erklingt so etwas wie die Stimme der Vernunft. Ein junger Mann ergreift das Mikrofon: „Wir sind vielleicht alle aus unterschiedlichen Gründen hier, aber wir müssen geschlossen auftreten. Sonst spielen wir unseren Gegnern in die Hände. Es ist egal, dass einige von uns mehr durchgemacht haben als andere. Was zählt ist nicht die Vergangenheit, sondern unsere Zukunft!“
Am Ende werden dann zum Unmut einiger Anwesender doch Delegierte gewählt. Während sie die Nacht hindurch an einer gemeinsamen Erklärung arbeiten, füllt sich der Taksim-Platz erneut und zum dritten Mal in Folge spielt der Pianist Davide Martello auf seinem Flügel beruhigende Melodien für die Demonstranten. Als es gegen 1 Uhr Nacht plötzlich heftig zu regnen beginnt, verlassen viele den Platz.
Reicht inzwischen etwa schon ein Wolkenbruch, um die Demonstranten auseinander zu treiben? Nein. Nur wenig später, um 3 Uhr, ist der Gezi-Park voller als je zuvor in den letzten Tagen. Die Menschen sind auf den Beinen, helfen sich gegenseitig dabei, das Wasser aus ihren Zelten zu schöpfen. Ihr Demokratieverständnis mag unterschiedlich sein. Doch mit Solidarität kennt sich die Protestbewegung eindeutig gut aus.
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