Debütalbum von Lost Girls: Die Erotik eines Y
Auf ihrem Debütalbum frönt das norwegische Duo Lost Girls seine Experimentierfreude. Die fünf Stücke sind kein klassischer Pop, eher Soundskizzen.
Die im Jahr 2006 erschienene Graphic Novel „Lost Girls“ spielt in einem Luxushotel in Österreich, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Der Autor Alan Moore und die Zeichnerin Melinda Gebbie lassen dort drei Heldinnen der Kinderliteratur aufeinandertreffen: Alice aus Lewis Carrolls „Wunderland“, Dorothy aus dem „Zauberer von Oz“ und Wendy Darling, die Freundin von „Peter Pan“. Was dann folgt, ist alles andere als jugendfrei.
Die drei tauschen sich ausführlich über ihre sexuellen Erfahrungen aus und kommen sich näher – in jeglicher Hinsicht. Moore selbst bezeichnet sein Werk freimütig als pornografisch. Der Autor, der sich mit Titeln wie „Watchmen“, „V wie Vendetta“ oder „The League of Extraordinary Gentlemen“ einen Platz im Comic-Olymp sicherte, habe einen Plot verfassen wollen, der anstelle von Gewalt Sex in den Fokus rücke und der Menschen aller sexuellen Orientierungen gleichermaßen anregen sollte, so heißt es in einer Besprechung im Spiegel aus dem Erscheinungsjahr.
Dass sich das norwegische Duo Lost Girls, das die Sängerin und Autorin Jenny Hval gemeinsam mit ihrem langjährigen Livemusiker, dem Multiinstrumentalisten Håvard Volden bildet und das kürzlich sein Debütalbum „Menneskekollektivet“ herausgebracht hat, nach ebendiesem Buch benannt hat, könnte einige Erwartungen wecken. Hval und Volden kommen diesen keineswegs nach und wahrscheinlich geht es genau darum: Erwartungen nicht zu erfüllen. Bei der Musik der Lost Girls wie im Comic über die Lost Girls.
Empfohlener externer Inhalt
Lost Girls

Im Vergleich zu ihrem literarischen Vorbild sind die Texte auf „Menneskekollektivet“ jedenfalls ziemlich unerotisch. Oder kommt es nur darauf an, was unter Erotik verstanden wird? Können Buchstaben erotisch sein? Vokale? Ein Y? „I cannot distinguish a ‚Y‘ from a thigh“ – so lautet einer der herrlich seltsamen Sätze, die Hval auf dem titelgebenden Stück über sphärische Synthesizerklänge spricht.
Zum Dasein als Frau, zum Menstruieren, zum Gebären
Von ihren Soloalben kennt man die Avantgardepopmusikerin eigentlich anders, konkreter, politischer. In ihren Texten bringt sie dort oft feministische Theorie, Kapitalismuskritik, persönliche Beobachtungen zum Dasein als Frau, zum Menstruieren, zum Altern, zum Gebären, zum Lieben, zum Verlangen so klug und humorvoll zusammen, dass es allein schon ein Vergnügen ist, diese zu lesen.
Was jetzt keinesfalls heißen soll, die Musik anzuhören lohne sich nicht. 2019 erschien Hvals jüngstes Album „The Practice of Love“. Auch Romane schreibt sie, „Girls against God“ kam im vergangenen Jahr auf Englisch heraus.
Lost Girls: „Menneskekollektivet“ (Smalltown Supersound/Secretly)
Als Teil der Lost Girls gibt sich Hval offenbar eher surrealistischen Formen des Schreibens als einer Agenda hin – und zitiert in „Losing Something“, einem düsteren Glamrock-Synthie-Bedroompop-Hybrid, ausgerechnet aus dem von einem Computerprogramm geschriebenen Prosabuch „The Policeman’s Beard is Half Constructed“ (1984).
Musikalisch sind Hval und Volden als Duo eingespielt, das ist dem Album anzuhören. 2012 haben sie als Nude on Sand eine Reihe bluesiger, folkiger, aber eigentlich jenseits aller Genregrenzen dahinmäandernder Songs veröffentlicht. 2018 folgte die EP „Feeling“, als Lost Girls, bestehend lediglich aus zwei sperrigen Songs, der eine 11, der andere 13 Minuten lang.
Türen als Bild für die Musik der Lost Girls
Mit klassischen Popsongs haben auch die fünf Stücke des neuen Albums nichts zu tun, eher mit Skizzen oder Studien – was durchaus positiv gemeint ist. Sie klingen so, als hätten Hval und Volden noch bei der Aufnahme an ihnen herumimprovisiert, sich gegenseitig immer neue Türen öffnend.
Eine Tür öffnet Hval in „Menneskekollektivet“ auch den anklopfenden Zeugen Jehovas, um sich dann vor diesen stehend wieder ihren Gedanken hinzugeben: „What is human, is human, an 'I’? / A non-‚‘I’? A selfless action? / Can you ever really say you are knocking on a door as a selfless act?“ und „You knock on the door because you believe in the concept of a door, and of conviction, preaching, ‚spreading the good word‘.“
Türen sind überhaupt ein gutes Bild für die Musik der Lost Girls, für ihr Album, das einem immer wieder entwischt, wenn man denkt, man hätte es erfasst. Sie klopfen an unzählige Türen, knallen sie hinter sich zu, laufen im Zickzack zwischen ihnen hin und her, fast könnte einem schwindelig auf diesem Trip werden, fast.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!