Debütalbum von Londoner Rapperin: Körperbewusst mit Werbeslogans
Für „Nymph“ zieht Rapperin Shygirl einen Begriff aus der griechischen Mythologie in die Gegenwart und untersucht ihn aus feministischer Perspektive.
In der griechischen Mythologie sind Nymphen Naturgöttinnen, die Wasser und Bäume verkörpern. Symbolisch stehen sie für Sexualität, Fruchtbarkeit und ewige Jugend. Künstler:innen fixierten sich oft auf deren Blöße. Wie würde sich eine Künstlerin als Nymphe heute in Szene setzen? Eine Antwort liefert die britische Musikerin Blane Muise alias Shygirl auf dem Cover ihres Debütalbums „Nymph“: Die Tochter einer weißen Mutter und eines Schwarzen Vaters hat ihre Augenbrauen gebleacht.
Statt mit bloßem Hinterteil im kalten Wasser, hüllt sie sich züchtig in eine hellblaue Daunenjacke. Ihr Gesicht verschwimmt wie die Glasperlen in ihren Haaren durch Unschärfe, sodass sie mit dem tiefblauen Himmel darüber verschmilzt.
Sex kommt trotzdem nicht zu kurz. Die 29-jährige Rapperin, Labelgründerin und Videoregisseurin mit abgeschlossenem Fotografie-Studium, erklärte schon in ihrer ersten Single „Want More“ (2016) Konditionen für einen für sie erfüllenden Geschlechtsverkehr über krachenden Beats. Dabei klingt Shygirl betont unaufgeregt, so, als rappe sie über das Bestreichen von Brötchen. Ihr Sound liegt zwischen Grime, Jungle und Hyper-Pop.
Spätestens mit der zweiten EP „Alias“ (2020) erregte die Londonerin, die zeitweise in einer Modelagentur jobbte und nachts in Underground-Clubs auflegte, größere Aufmerksamkeit. So nutzte Superstar Rihanna die Musik von Shygirl für ihre „Fenty“-Modeschauen.
Hochgepitchte Stimmen, Echos und Wellenbewegungen
Tracks wie „Slime“ oder „Freak“, die animalisches Knurren mit düsteren 808-Bässen und gehauchte Dringlichkeit mit knarzender Elektronik kombinieren, bringen trotz Pandemie die Sehnsucht nach tanzenden Körpern und sexy Augenaufschlägen im Club unter die Leute. Wer Shygirls Sound allerdings auf tanzbaren Dirty-Talk verkürzt, verpasst, was schon die ersten beiden Songs auf „Nymph“ beweisen: Während „Woe“ wie ein klassischer Popsong daherkommt, taucht im Videoclip zu „Come for Me“ die Nymphe in einem Wald auf.
Shygirl: „Nymph“ (Because Music/Virgin)
Shygirl baut mit der kolumbianischen Produzentin Arca einen Feen-Party-Track. Die Natur-Referenzen kommen aus dem Computer: Hochgepitchte Stimmen, Echos und wabernde Wellenbewegungen. Der Songtext nimmt die Ambivalenz auf: „Come when you’re called / Be easy if I take the lead“ lässt in der Schwebe, ob ein Wille erzwungen wird. Die zwölf Tracks des Albums weisen faszinierende Tempo- und Rhythmuswechsel auf.
Shygirls Stimme klingt mal butterzart, mal mechanisch und dann wieder gesäuselt. „Shlut“ ist ein Song, bei dem Shygirls Produzent Sega Bodega seine Finger mit im Spiel hat, die Musik changiert von einer an Nellys „Country Grammar“ erinnernde lockere Fahrt zu einem Trap-Brett. Bei letzterer Klangkulisse ist die Wortwahl gewohnt selbstermächtigt: „Woke up like a slut, yeah I like that … / Tell you what I want / I better find you here …Body right, pussy tight … never mind I’m fucking with myself.“
Ambivalenz liegt in der DNA von Shygirl
Schimpfworte wie „Slut“ nutzt Shygirl, um sie zu demaskieren. So stützt der von Mura Masa und Oscar Sheller stammende verlangsamte Harlem-Beat auf „Nike“ spielerische Gleichsetzungen von Fastfood und Sport-Slogans mit Action im Schlafzimmer, aber „I tell him ‚Lay the pipe‘ and he blew it“ lässt offen, ob die Vortragende bekommt, was sie will – „just do it“ –, erscheint also nicht ganz so einfach. Ambivalenz liegt in der DNA von Shygirl.
Die queere Musikerin mit karibischen Wurzeln bekam mit zwölf von ihrem damals in Nachtclubs arbeitenden Vater Garage-Mixtapes. Ohne Vorstellung, wie ein Club aussieht, entstand ein Ort in ihrem Kopf, an dem genau diese Musik lief. Ein Prozess, den sie bis heute nutzt, um eigene Narrative und einen Platz im Musikkosmos für sich selbst zu finden. Diese Willenskraft klingt auf „Nymph“ fresh, kühn, unwiderstehlich.
„Coochie (a bedtime Story)“ ist das zärtlichste Lied, das je der Vagina gewidmet wurde. Mura Masas prägende Inspiration von Steel Drums, die er auf den Straßen im Süden Londons gehört hat – wo Shygirl auch herkommt –, betören – bis sich der Traum wohlig feucht um die Hörerin legt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Verfassungsklage von ARD und ZDF
Karlsruhe muss die unbeliebte Entscheidung treffen
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los