Debattierclub der Angst

Draußen Polizei. Drinnen die Suche einer Familie nach Beweisen

„Die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren schon einmal eingestellt – ob sie diesmal meine Unterlagen vernichtet?“

aus Sebnitz HEIKE HAARHOFF

Und Arnold Schwarzenegger? Es ist mehr als eine Frage, mehr als das Name-Dropping einer 15-jährigen Teenagerin, die beweisen will, wie gut sie sich im Showbiz auskennt. Für einen Moment ist es, als habe Diana Angst, den von ihr initiierten Wettstreit in letzter Sekunde doch noch zu verlieren. Arnold Schwarzenegger wäre so ein Fall. Was, wenn die Reporterin nun ausgerechnet den kennt? Was, wenn sie sagt, ja, ätsch, den hab ich schon mal getroffen? Dianas schöner Vorsprung wäre dahin. Denn Arnold Schwarzenegger zählt.

Mehr als alle bisher von ihr aufgezählten Stars, von denen die Reporterin im Gegensatz zu Diana die wenigsten persönlich kennt, mehr als Michel Friedman also, der stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, „der so toll reden kann“, mehr als der Kanzler, „der uns so freundlich empfangen hat“, mehr als Erich Böhme, „bei dem wir in der Talkshow waren“, mehr als Hajo Funke, „dieser Politikwissenschaftler aus Berlin, der unser Freund ist“, und auf jeden Fall mehr als Volker Schlöndorff, der Filmregisseur, „dieser Mann mit der Trommel“. Der reiste erst kürzlich nach Sebnitz und beteuerte, er wolle einen Film machen über Diana und die Geschichte vom mysteriösen Tod ihres kleinen Bruders Joseph vor dreieinhalb Jahren im Schwimmbad von Sebnitz, „und anschließend hat er uns quasi als Psychopathen hingestellt“, sagt Dianas Mutter. Aber was soll’s, sie nimmt es hin, und die Frage war ja auch nach Arnold Schwarzenegger, dem stärksten aller Typen, und da hat Diana Glück: Die Berühmtheit ist allen im Raum nur von der Leinwand bekannt, und vermutlich wird sich daran auch so schnell nichts ändern. Denn das Medieninteresse an der Geschichte der Familie Kantelberg-Abdulla, die am 13. Juni 1997 unter ungeklärten Umständen ihren sechsjährigen Sohn Joseph verlor, hat merklich abgenommen, seit die Staatsanwaltschaft Dresden einen rechtsradikalen Tathintergrund ausschließt, seit sich die Gerüchte verdichten, die Kantelberg-Abdullas hätten die Zeugen bezahlt, die ihre Version vom gewaltsamen Tod ihres Sohns durch Neonazis stützten, seit die Ermittlungen eher auf einen Badeunfall hindeuten, seit die Stadt versucht, den „Fall Joseph“ als bösen Spuk abzutun.

Es hat geschneit in Sebnitz an diesem dritten Advent, aber aus den Fenstern des Apothekerhauses der Kantelberg-Abdullas in der Rosenstraße ist von der weißen Pracht draußen wenig zu sehen, von Beschaulichkeit nichts zu merken. Renate Kantelberg-Abdulla, ihr Mann Saab Abdulla (beide 49) und ihre Tochter Diana haben sich drinnen verschanzt wie in einer Burg, die Rollos sind heruntergelassen, die Haustür ist mehrfach verriegelt, und wer der Familie trotzdem einen Besuch abstatten möchte, muss ein Dutzend vor dem Haus wachende Polizisten überwinden.

„Es ist wie im Gefängnis“, sagt Saab Abdulla. Ein Grund, Sebnitz zu verlassen? Nie! „Wir haben nichts verbrochen, und wir haben noch so viel Arbeit hier, wir arbeiten rund um die Uhr“, sagt seine Frau. Blass, müde, angestrengt kommt der Satz daher. Ihren 49. Geburtstag vor einer Woche, sagt sie, hat ihr Mann schlicht vergessen, „wir sind so beschäftigt“. Dabei ist die Apotheke im Erdgeschoss bis auf weiteres geschlossen, und woher die Einnahmen kommen sollen, ist mehr als unklar, bislang ist von den angekündigten staatlichen Ausgleichszahlungen nichts eingetrudelt, nur so viel: Das Sicherheitsrisiko der Wiedereröffnung sei zu groß, hat das sächsische Innenministerium beschieden.

Zu tun, darauf jedenfalls deuten die wild im Arbeitszimmer der Familie verstreuten Aktenordner hin, gibt es aber auch so genug. Seit die Staatsanwaltschaft, die Renate Kantelberg-Abdulla der Anstiftung zur Falschaussage verdächtigt, bei einer Hausdurchsuchung kistenweise Zeugenaussagen, Videobänder von Zeugenbefragungen, handschriftliche Notizen, elektronische Tagebücher und Fotos aus der Apotheke mitgenommen hat, versucht Josephs Mutter, „meine Beweise, die mir genommen wurden“, notdürftigst zu rekapitulieren: „Ich habe das alles sowieso im Kopf.“ Mit den ersten Notizen aus der Erinnerung hat sie schon angefangen. Denn dass sie von ihrem über mehr als drei Jahre akribisch und mit umstrittenen Methoden gesammelten Material irgendetwas wiedersehen wird, hält sie für so wahrscheinlich nicht. „Die Staatsanwaltschaft Dresden hat das Ermittlungsverfahren schon einmal eingestellt“, sagt sie, „wer weiß, ob sie diesmal meine Unterlagen vernichten?“ Ihre einzige Hoffnung ruht jetzt auf dem Generalbundesanwalt. Wenn der sich ihres Falles, ihrer Überzeugung von der Ermordung ihres Sohns nicht annimmt, dann ist sie wirklich allein. Selbst dem Gerichtsmediziner, den sie auf private Kosten mit der erneuten Untersuchung von Josephs Leiche betraut hatte, misstraut sie mittlerweile: Der Arzt mochte ihren Verdacht, Joseph sei mit dem Betäubungsmittel Ritalin vergiftet worden, nicht bestätigen. „Er wurde unter Druck gesetzt“, vermutet Renate Kantelberg-Abdulla, „hier soll die Ermordung meines Sohns vertuscht werden“.

Mord aus niederen Motiven, Mord aus Ausländerfeindlichkeit, weil Josephs Vater gebürtiger Iraker ist, Mord als Eskalation eines Konkurrenzkampfs zwischen den drei örtlichen Apotheken. Zur Stützung ihrer These gerät da jeder Schnipsel zum sachdienlichen Hinweis. Da ist etwa das Ritalinrezept, das drei Tage vor Josephs Tod in ihrer Apotheke eingelöst wurde. „Ist das bloß Zufall?“, fragt Renate Kantelberg-Abdulla, kramt nach dem Papier, eines der wenigen, die die Staatsanwaltschaft übersehen hat, und an die sie sich jetzt klammert, findet es nicht, ruft, als gehe es um ihr Leben: „Wo ist es, wo ist es, habt ihr es gesehen?“

Diana geht zu ihrer Mutter, klettert wie ein kleines Mädchen auf ihren Schoß, ermahnt sie, sich zu beruhigen: „Mam!“ Renate Kantelberg-Abdulla streicht ihrer Tochter übers Haar, das unter der Baseballmütze hervorguckt, dreht es zu einem Zopf. „Diana hat die stärkste Psyche von uns allen.“ Diana war es, die mit Joseph im Schwimmbad war an jenem 13. Juni 1997. Diana war es, die ihren Bruder, den Nichtschwimmer, aus den Augen verloren hatte. Diana mit ihren damals zwölf Jahren versuchte, ihn wiederzubeleben, als er schon tot am Beckenrand lag. Diana, so geht das Gerücht in Sebnitz, sah kurz darauf wie arg verprügelt aus. „Krankenhausreif, ja“, sagt ihr Vater, „ich kenne diese Erzählungen“, er blickt rüber zu Diana, die Stimme bricht, „ich habe sie nicht geschlagen“. Diana kuschelt sich an ihre Mutter.

Das Kind wird am nächsten Tag eine Mathearbeit schreiben, Wurzelfunktionen, Diana geht seit einigen Tagen wieder zur Schule, gelernt hat sie noch nicht, „aber ich schaff das“, sagt sie, „ich schaff das“. Um elf ins Bett gehen, den Wecker auf zwei Uhr morgens stellen, und dann bis zum Schulbeginn pauken. „Sie braucht ihre Zeugnisse nicht zu verstecken“, sagt ihre Mutter voller Stolz. „Du hast halt eine Tochter, die sich engagiert“, erwidert die. Am liebsten liest Diana die alten Dichter, Goethe, Shakespeare, Lessing, Storm, „die haben noch geschrieben, weil sie was zu sagen hatten, und nicht wegen Geld“. Und wenn sie selbst einmal groß ist, dann will sie Hirnchirurgie machen, oder Herzchirurgie, „irgendwas Schweres“.

Das Handy klingelt. „Es ist Hajo“, flüstert Diana, der Politikwissenschaftler Funke, überreicht ihrer Mutter den Hörer, wendet sich selbst dem Computer zu, Internet gefällt ihr gut. Ihre Mutter ruft: „Gut, dass du anrufst!“ Es geht um Johannes Rau, den Bundespräsidenten, der heute Sebnitz und die Familie Kantelberg-Abdulla besuchen will. „Hajo“, sagt Renate Kantelberg-Abdulla, „ich habe deinen Zettel aus Versehen weggetan, kannst du mir in Stichworten nochmal sagen . . ., ja . . ., auf Raten von verschiedenen Rechtsanwälten, jaa, hätte ich, jaa, Zeugenbefragungen gemacht, ja, und die Zweitobduktion auch, jaa, und der Verdacht der Ermordung, ja, schließlich hätten mich ja auch Leute aus dem Ort angesprochen“, kurze Pause, „ich danke dir“.

Renate Kantelberg-Abdulla sieht erleichtert aus. „Es gibt wirklich auch sehr, sehr gute Menschen“, sagt sie, „auch hier in Sebnitz, es ist sogar die Mehrheit der Sebnitzer, aber dass ich das ausdrücklich sage, haben die Medien bisher unterschlagen“. Da ist zum Beispiel die Freundin, eine Sebnitzerin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, aber die seit dreieinhalb Jahren zu Renate Kantelberg-Abdulla hält, ihr bei der Suche nach möglichen Zeugen geholfen hat, sie regelmäßig besucht, auch heute. „Ich hatte gleich den Verdacht, dass der Joseph von Rechten ermordet wurde“, sagt die Frau, Mitte dreißig, und sucht sich einen Stuhl. Hat sie etwas gesehen im Schimmbad? „Nein, ich war an dem Tag gar nicht da.“ Dann: „Aber Interessensgebiete hat man ja.“ Und die Rechten im Ort, die schon zu DDR-Zeiten die wenigen ansässigen Ausländer wochenends mit Zaunlatten in der Hand durch Sebnitz gehetzt hätten, die hätte sie halt nicht so schnell vergessen.

Diana wendet ihren Blick vom Computer. Unvermittelt fragt sie in die kleine Runde: „Waren Sie früher in einem Debattierclub?“ Nun ja, nein, alle müssen passen, was das denn sein solle, ein Debattierclub? „Das gibt’s in Amerika“, belehrt Diana, „da lernt man, vor einer großen Gruppe eine bestimmte These zu verteidigen, und nur wenn man das schafft, ist es eine Debatte.“ Sie blickt ihre Mutter an: „Das möchte ich auch lernen.“