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Debatte um einheitliche CoronapolitikDer Tag nach dem Machtwort

Kanzlerin Angela Merkel will die Länder zur Einhaltung der Notbremse verpflichten. Selbst von dort kommen nun Rufe nach mehr Einheitlichkeit.

Hilft ein bundesweites Gesetz gegen die Pandemie? Kanzlerin Merkel am Sonntag bei Anne Will Foto: Wolfgang Borrs/NDR Presse

Berlin taz | Die Drohung war unüberhörbar: Wenn in absehbarer Zeit nichts passiere, müsse sie überlegen, wie sich das vielleicht auch bundeseinheitlich regeln lasse. Kanzlerin Angela Merkel wandte sich in der Talksendung Anne Will am Sonntagabend wie eine strenge Mutter an die renitenten Bundesländer, die sich bislang weigern, die verabredete Notbremse umzusetzen. Darunter auch das schwarz-gelb regierte Nordrhein-Westfalen und das rot-rot-grüne Berlin, die bislang keine Lockerungen zurückgenommen haben, obwohl die landesweiten Inzidenzen drei Tage in Folge über 100 lagen.

Aber kann Merkel ihre Drohung überhaupt wahrmachen? Dazu müsste sie die Länder ja praktisch entmachten und Bundestag und Bundesregierung zu Dirigenten der Corona-Politik machen. Sympathie für den Vorstoß gibt es durchaus, etwa beim Koalitionspartner SPD. Sie sei eine Freundin bundeseinheitlicher Regeln, sagte die gesundheitspolitische Sprecherin Sabine ­Dittmar der taz. „Aber ich weiß nicht, woher Frau Merkel die Zuversicht nimmt, dass die Länder sich dran halten.“ Auch der Anfang März vereinbarte Stufenplan gebe ja einheitliche Kriterien vor, ab welcher Inzidenz Lockerungen erlaubt oder wieder zurückgenommen werden müssen. „Diese Regeln müssen nur umgesetzt werden“, sagte Dittmar.

Dass auch Länder wie das SPD-regierte Berlin sich nicht daran hielten, mache sie ratlos. „Ich habe kein Verständnis für Öffnungsstrategien angesichts steigender Infektionszahlen“, sagte Dittmar.

Man könne nur an die Länder appellieren, dass sie sich an Vereinbarungen hielten. Dass künftig der Bundestag den Takt vorgibt und die Corona-Maßnahmen beschließt, hält sie nicht für realistisch. Auch in diesem Fall müssten die Länder ja mitziehen – sprich den Gesetzen im Bundesrat mit Mehrheit zustimmen. Die nächste Bundesratssitzung ist für den 3. Mai angesetzt. „Entscheidend ist aber, dass wir jetzt handeln damit die Zahlen in den nächsten drei, vier Wochen sinken“, sagte Dittmar.

FDP-Vize Wolfgang Kubicki kritisiert Merkel dagegen scharf. „In Deutschland gilt nicht das Wort der Kanzlerin, sondern Verfassung und Gesetze“, so Kubicki zur taz. Selbst wenn der Bundestag ein neues Infektionsschutzgesetz beschließe, sei die Ausführung immer noch Ländersache. Kubicki verweist darauf, dass das Infektionsschutzgesetz die Länder sogar dazu verpflichtet, Schutzmaßnahmen unter Berücksichtigung des jeweiligen Infektionsgeschehens regional bezogen umzusetzen.

Bundeseinheitliche Regelungen über das Infektionsschutzgesetz oder gar per Verordnung aus dem Kanzleramt hält er weder für umsetzbar noch für nötig. Schon jetzt könne jeder Landkreis eigene Maßnahmen beschließen, sobald die Inzidenz den Schwellenwert von 100 überschreite. „Die Ministerpräsidentenkonferenz ist kein Gesetzgebungsorgan, ihre Beschlüsse sind demzufolge Handreichungen, aber keine gesetzlichen Grundlagen“, stellt Kubicki klar.

Der FDP-Politiker plädiert grundsätzlich für eine stärkere Einbeziehung des Bundestags. Der sollte darüber debattieren, welche Maßnahmen wann ergriffen und wie überprüft werden. Man sei dazu auch kurzfristig in der Lage. „Wäre der Bundestag frühzeitig mit eingebunden gewesen, dann wäre uns das, was vergangenen Montag passiert ist, erspart geblieben“, meint Kubicki.

Auch die Grünen wollen den Bundestag künftig stärker beteiligt sehen. „Frau Merkel muss jetzt dem Parlament einen gesetzlichen Stufenplan vorlegen. Wir sind jederzeit bereit, kurzfristig im Bundestag zu einer Sondersitzung zusammen zu kommen, um notwendige Beschlüsse zu fassen“, so die parlamentarische Geschäftsführerin Britta Haßelmann zur taz.

Und die Länder? Bayerns Ministerpräsident Markus Söder sagte in den Tagesthemen, er könne sich mehr Kompetenzen in Bundeshand vorstellen. Auch der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) verwies gegenüber der dpa darauf, dass sein Land ja schon vor Monaten einen bundeseinheitlichen Kriterienkatalog vorgeschlagen hatte. „Ich sage immer noch: Dann macht es doch endlich!“

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14 Kommentare

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  • Ich falle von einer Ohnmacht in die andere angesichts der konfusen Regierungen, die wir auf Bundes- und Landesebene haben. Jeder profiliert sich und hat die Wahlen im September im Sinn.

  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    „Ich sage immer noch: Dann macht es doch endlich!“

    Das geht nicht, wenn man völlig unfähig ist.

  • "Wäre der Bundestag frühzeitig mit eingebunden gewesen, dann wäre uns das, was vergangenen Montag passiert ist, erspart geblieben" -- genau! Dann hätten wir auf die smarten Lösungen vertraut, die das Christian-Lindner-Institut für Innovation und Prokrastination entwickelt hätte, Herr Kubicki!

  • "„Wäre der Bundestag frühzeitig mit eingebunden gewesen, dann wäre uns das, was vergangenen Montag passiert ist, erspart geblieben“, meint Kubicki."



    Einfach irre wie da auf allen Seiten nur noch das Blame-Game gespielt wird um die jeweils eigene Untätigkeit zu kaschieren. Die Regierung ist vom Parlament abhängig, nicht umgekehrt und entsprechend braucht der Bundestag auch nicht von der Regierung "eingebunden" zu werden um aktiv zu werden, das kann und darf er ganz eigenständig ohne dazu von irgendwem die Erlaubnis abwarten zu müssen und auch der Opposition würde es frei stehen den gewünschten Gesetzesentwurf einzubringen.



    Wollte die Kanzlerin es sich einfach machen könnte sie ebenfalls nach diesem Muster vorgehen, erklären, dass der Seuchenschutz Ländersache ist und sich sehr bequem aus der Schusslinie bringen indem sie sich, statt sich in nächtlichen Kanzleramtsrunden um Moderation und Konsens zu bemühen, nur noch den begrenzten Bundeszuständigkeiten widmen würde. Das wäre zwar sicher das Ende jeglicher Einheitlichkeit der Regelungen, würde im besseren Fall aber dazu führen, dass die Wut der zunehmend entnervten Bevölkerungen sich gegen die Staatskanzleien statt gen Berlin richten und damit endlichen jenen gelten würden die auch formal in erster Linie die Verantwortung tragen.

    • @Ingo Bernable:

      Nein, "erklären, dass der Seuchenschutz Ländersache ist" kann sie nicht so einfach. Das würde im vorliegenden Fall erfordern, dass das Infektionsschutzgesetz Artikel 5 grundsätzlich neu konzipiert wird. Wir haben eine epidemische Lage von nationaler Tragweite, das hat der Bundestag rechtskonform festgestellt, und daher stinkt der Fisch vom Kopf her.

      • @Ajuga:

        Die rechtskonform festgestellte epidemische Lage von nationaler Tragweite ändert aber nicht im Geringsten etwas daran, dass die konkreten Maßnahmen nach wie vor Sache der Länder sind. Wäre es anders bräuchte es die Kanzleramtsrunden mit den MPs nicht und der Bund könnte dirigistisch durchregieren, ist aber nicht so.

    • @Ingo Bernable:

      ganz genau.

      Es scheint so, dass Corona parteitechnisch Verhandlungsmasse sein soll.

      Liebe Politiker, lasst euch einfach mal die Exponentialfunktion erklären. Das geht schnell, wenn ihr über Intelligenz verfügt.

      Um Himmels willen!

      • @mm³:

        Nun - die wissen schon, was eine Exponentialfunktion ist. Bleibt aber doch immer noch die Frage, was man und wo man was halbwegs wirksam gegensteuern kann. Wenn nächtliche Ausgangssperren helfen sollten - muss man sie natürlich verhängen.



        Ich lebe in Hamburg und mache gern vor der Nachtruhe noch einen kleinen Spaziergang - wenn es das Wetter zulässt. Ausser ein paar Hundehaltern ist da abends ohnehin derzeit niemand mehr draussen. Man grüßt sich von Weitem und fertig. Wie denn die Inzidenz sinken sollte, wenn ich abends nicht mehr frische Luft schnappe, konnte mir bislang noch niemand plausibel nachvollziehbar erklären. Hätte der Bund beizeiten seine Hausaufgaben gemacht, wären wir inzwischen alle schon geimpft und getestet, aber Frau Merkel verdrängt mal wieder völlig, dass sie sich seit vielen Jahren aus machttaktischen Erwägungen heraus mit reichlich untauglichem Personal umgibt.

  • Einheitlichkeit als Selbstzweck nutzt doch niemandem. Der Teil der Zuständigkeiten, der sowieso schon beim Bund lag, wurde bislang leider immer nur suboptimal umgesetzt - Impfstoffbeschaffung, Testen, Schutzausrüstung, finanzielle Hilfen etc.. Niemand sollte sich also einbilden, dass mehr Befugnisse beim Bund letztlich auch bessere Ergebnisse bei der Pandemiebekämpfung bedeuten würden. Das ist nichts weiter als ideologischer Magerquark und es wundert mich doch sehr, dass man hier ausgerechnet einer Bundeskanzlerin nachplappert, die fast 16 Jahre Zeit gehabt hatte, dieses Land auch mal für eine solche Belastung fit und effizient zu machen. Diese Pandemie ist eben genau keine „Naturkatastrophe“, sondern durch und durch menschengemacht.

    • @Rainer B.:

      Und man muss einfach verstehen, dass wir nicht nach Mallorca reisen, nicht Judoweltmeisterschaften abhalten und dass der Fußball nicht Deutschlands erstes Hobby ist.

      Exponentialfunktion:



      Aktuell Infizierte mal Reproduktionsfaktor gleich Infizierte des nächsten Tages.



      Aktuell Infizierte mal Reproduktionsfaktor hoch 7 = Infizierte in einer Woche.



      Hoch 14 in 2 Wochen.

      Das ist so einfach.

      • @mm³:

        Für eine Reproduktion werden 5,5 Tage angesetzt.

      • @mm³:

        Dabei aber bitte nicht übersehen, dass sich der gängige Reproduktionswert R nicht auf die tägliche Veränderung bezieht sondern auf die Gesamtdauer der Erkrankung.

        • 0G
          04105 (Profil gelöscht)
          @Ingo Bernable:

          ...un d das verändert die schlaue Rechnung erheblich.



          Hinzu kommt - nach dem Motto "garbabe in garbage out", dass weder die Inputdaten oft auf Schätzungen beruhen, für die der Begriff "raten" erfunden wurde. Dies gilt insbesondere für die Schätzung der Verteilung.

          "Das ist so einfach." Nein, wirklich nicht.

      • @mm³:

        so einfach....

        mein Mathelehrer in der 7. Klasse Gymnysium war nicht in der Lage mit die 4. Funktion zu erklären....

        ich wollte es verstehen... nacdem sie mir hoch zwei als Fläche und hoch drei als Raum beigebracht hatten.

        Schon bei einem Exponenten mehr versagte die Erklärung.