Debatte um die Letzte Generation: Wer ist hier radikal?
Die Aktivisten der Letzten Generation gelten als extrem. Dabei bleiben sie friedlich – auch angesichts einer teils verfassungswidrigen Klimapolitik.
D ie Radikalisierung innerhalb der Klimabewegung schreitet rasant voran. So klingt es jedenfalls, wenn man der aktuellen Berichterstattung und sich in Talkshows äußernden Politikern Glauben schenkt. Seit Wochen sei Berlin ein chaotisches Pflaster, überall Extremisten in orangen Warnwesten, die den Verkehr lahmlegen. Radikal.
Am Tag der angekündigten Klima-Blockaden in Berlin gab CDU-Generalsekretär Mario Czaja ein Radiointerview. Er sprach von „diesen sogenannten Aktivisten“, die seines Erachtens Extremisten, Gewalttäter, Straftäter seien. Die Berliner Polizei solle hart durchgreifen. Sein Kollege Alexander Dobrindt von der CSU habe „das berechtigterweise sehr pointiert formuliert“, als er die Gruppe als Klima-RAF bezeichnete. Es drohe weiterer Extremismus.
Radikalisierung. Extremismus. Die Begriffe fallen oft, und sie diffamieren Aktivisten, die etwas fordern, dem eigentlich alle zustimmen müssten: den Planeten nicht aus Profitgier zu zerstören. Stattdessen werden härtere Strafen und Präventivhaft für Aktivisten gefordert. Einige Gefängnisstrafen ohne Bewährung wurden schon verhängt. Zuletzt verurteilte das Amtsgericht Berlin-Tiergarten eine 24-Jährige zu vier Monaten Haft. Derweil bedauert Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD), dass die Selbstjustiz ausübenden wütenden Autofahrer „leider dann eben auch zur Rechenschaft gezogen werden“ müssen. Was ist denn nun radikal und extremistisch?
Schaut man sich die Definition von „radikal“ an, so ist die Letzte Generation auf den ersten Blick wirklich radikal. „Radix“ heißt auf Lateinisch „Wurzel“, es geht ihnen im Großen und Ganzen darum, gesellschaftliche und klimapolitische Probleme „an der Wurzel“ zu packen und durch grundlegende Veränderungen in der Gesellschaft zu lösen. Aber dem demokratischen System bleibt die Letzte Generation durch und durch verpflichtet. Extremistisch sind die Gruppe auch nicht, denn sie lehnt weder den demokratischen Verfassungsstaat ab, noch ist sie gewaltbereit oder agiert gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung.
Der Idealismus ist bemerkenswert
Das Gegenteil ist der Fall: „Wir wollen den Menschen in der Regierung die Hand reichen, damit sie ab jetzt ihrer Verantwortung vor der Verfassung nachkommen können“, heißt es auf der Website der Letzten Generation. Der Idealismus der Aktivisten ist bemerkenswert – und in der Politik so kaum zu finden. Dafür brechen Politik und Justiz das Grundgesetz andauernd.
Das Klimaschutzgesetz von 2019 stufte das Bundesverfassungsgericht als teils verfassungswidrig ein – weil es die Freiheitsrechte kommender Generationen verletzt. Die Ampel wiederum weicht dieses Gesetz noch auf, baut weitere Autobahnen aus, lässt Lützerath abbaggern, während das versprochene Klimageld ausbleibt. Das anzuprangern soll radikal sein?
Die Aktionen der Letzten Generation in Berlin sehen im Detail so aus: Straßen blockieren, das Grundgesetzdenkmal am Reichstag und Privatjets mit Farbe besprühen, Protestmärsche und Aufklärungsvorträge. Friedliches Sitzen auf der Straße und abwarten, bis man von der Polizei weggetragen wird, oder von einem echauffierten Autofahrer an den Haaren. Selbst dann bleibt das oberste Prinzip der Aktivisten immer: Gewaltfreiheit. Friedlicher ziviler Ungehorsam, wie im Geschichtsunterricht als vorbildlich gelehrt.
Politiker wollen Status quo, den es bald nicht mehr gibt
Extremistisch, extremus, also außen, zu sein heißt, extreme Randpositionen im Verhältnis zur angenommenen Mitte des politischen Spektrums einzunehmen. Beim ZDF-Politbarometer im April 2023 allerdings waren rund 48 Prozent der Befragten der Meinung, dass in Deutschland zu wenig für den Klimaschutz getan werde. Die Letzte Generation steht also mittendrin.
Eher warnen bestimmte Politiker und Medienhäuser vor einem Extremismus, der so nicht existiert. Der CDU-Politiker Philipp Amthor etwa bezeichnete bei Maischberger die Letzte Generation als radikal – um gleich darauf ihre Forderungen nach Tempolimit und 9-Euro-Ticket zu lasch zu nennen.
Czaja, Amthor, Dobrindt: Sie nennen sich selbst Mitte und die Letzte Generation radikal. Dabei ist es gerade umgekehrt. Denn sie möchten am liebsten einen Status quo, den es bald nicht mehr geben wird. Erich Fried schrieb vor mehreren Jahrzehnten: „Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt.“ Bezüglich der Klimakrise so aktuell wie nie.
Es steht für uns zu viel auf dem Spiel
Natürlich sprechen nicht alle so radikal über die Klimaaktivisten. Die meisten Politiker und Journalisten machen weiter wie bisher und kritisieren vage die Protestform. Es gibt Gerichte, die Aktivisten freigesprochen haben. Und Versuche der Annäherung vonseiten einiger Politiker. Die Oberbürgermeister von Marburg, Tübingen und Hannover haben sich mit der Gruppe ausgetauscht und ihre Forderung nach einem Gesellschaftsrat öffentlich befürwortet. In diesen Städten finden keine Blockaden mehr statt.
Selbst FDP-Verkehrsminister Volker Wissing hat sich vor Kurzem mit drei Aktivisten zum Gespräch getroffen. Jedoch unter der Prämisse, dass es weder Verhandlungen noch eine Vereinbarung nach dem Treffen geben werde. Und so kam es dann auch. Wissing blieb radikal bei seiner Meinung: „Ich halte diese Machenschaften nach wie vor für unerträglich, nicht tolerabel und für kriminell.“ Mit aller Härte des Gesetzes müssten sie verfolgt werden.
Was mehrere Monate im Knast mit den Aktivisten machen wird, wird nicht besprochen. Eins ist sicher: Weniger radikal werden sie dadurch nicht protestieren. Und nachgeben sowieso nicht. Einige Mitglieder der Letzten Generation traten 2021 schon kurz vor der Bundestagswahl in den Hungerstreik. Mit Wissings „Annäherungsversuch“ und ein paar zustimmenden Worten zum Klimaschutz werden sich die Aktivisten sicher nicht zufriedengeben. Dafür steht zu viel auf dem Spiel. Für uns alle.
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