Debatte um Sarrazin hält an: SPD steckt alle in die Tasche
In und außerhalb der SPD häufen sich empörte Reaktionen auf den Sarrazin-Nichtrauswurf. Als Wahltaktik könnte das Ganze aber aufgehen, befürchten die Kritiker.
Die Stimmungslage ist eindeutig: MigrantInnen in Berlin sind enttäuscht von der Entscheidung der SPD, das Parteiausschlussverfahren gegen Thilo Sarrazin einzustellen. Taktisch und parteipolitisch habe die SPD sich damit zwar klug verhalten, sagt etwa Ahmet Külahci, Leiter des Berliner Büros der Hürriyet, der größten türkischsprachigen Tageszeitung. Denn bei der SPD und ihren Wählern gebe es viele, die wie Sarrazin dächten: "Man will deren Stimmen wohl nicht verlieren." Und selbst wenn "der eine oder andere eingebürgerte Migrant" das übel nehme: "Der SPD ist die andere Gruppe wohl wichtiger", so Külahci.
Härter formuliert Kien Nghi Ha, Kultur- und Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt Migrations- und Rassismusforschung, seine Kritik: "Funktional betrachtet ist die Entscheidung der SPD natürlich klug", so Ha. Man wolle wohl die zwei Drittel der Deutschen, die Umfragen zufolge mit Sarrazin sympathisieren, nicht vor den Kopf stoßen. Moralisch sei diese Haltung allerdings "verheerend", so der Migrationsforscher: "Denn sie signalisiert: Wir stehen nicht zu unseren politischen Idealen." Das zeige "die Dimension des Rassismus in Deutschland".
Weit weg von dieser Einschätzung ist Muharrem Aras mit seiner Meinung zur SPD-Entscheidung nicht. Aber Aras ist SPD-Kandidat in Friedrichshain-Kreuzberg für die nächste Abgeordnetenhauswahl. "Gerade hier in Kreuzberg werden wir auslöffeln müssen, was die SPD sich da eingebrockt hat", fürchtet er. Die Rechnung, dass die Rücknahme der Ausschlussanträge dem Wahlkampf nutzen wird, werde nicht aufgehen, glaubt der Rechtsanwalt: "Ich vermute, dass uns das eher schaden wird." Er bekomme von GenossInnen per Facebook und e-Mail bereits viele Ankündigungen von Austritten, so Aras. Aber: "Wir können doch nicht Leuten wie Sarrazin die Partei überlassen!" Denn das größere Problem sei, dass "ein Teil der Partei seinen Thesen zustimmt", sagt Sozialdemokrat Aras: "Das macht mir mehr Angst."
Es gingen "eine ganze Menge Mails mit wütenden Protesten" gegen die Sarrazin-Entscheidung bei ihm ein, "die mehrheitlich übrigens nicht von MigrantInnen kommen", bestätigt Jan Stöß, Kreisvorsitzender der SPD Friedrichshain-Kreuzberg: "Die Empörung ist groß." Auch er meint: "Die Rücknahme der Ausschlussanträge legitimiert, was Sarrazin von sich gegeben hat." Der habe sich vom sozialdemokratischen Konsens, dass alle Menschen gleich seien, verabschiedet, "indem er einer Bevölkerungsgruppe sagt, sie sei weniger wert", so Stöß.
Bei einer Sondersitzung des SPD-Landesvorstands am Dienstagabend wollten das die Verfasser der Berliner Erklärung noch einmal deutlich machen. In der Erklärung rufen migrantische und nicht-migrantische SPD-Anhänger dazu auf, die Partei nicht zu verlassen. "Gerade jetzt lohnt es sich zu kämpfen", sagt Aziz Bozkurt vom Landesvorstand der AG Migration der SPD und Initiator der Erklärung. Außerdem kritisieren die Unterzeichner einen "Zickzackkurs" der Partei und entschuldigen sich für diese Haltung.
Die Fraktionsspitze des SPD-Koalitionspartners Linkspartei äußert sich dagegen zurückhaltend zu der Einigung. "Es ist Sache der SPD, wen sie ihn in ihren Reihen duldet", sagt der Fraktionsvorsitzende Udo Wolf. Aus den Bezirksverbänden kommen allerdings deutlichere Stimmen: "Ich halte das für einen faulen Kompromiss", sagt Peter Fischer, Geschäftsführer der Lichtenberger Fraktion. Möglicherweise habe Sarrazin gedroht, bei einem Parteiausschluss einer anderen Partei beizutreten. Angebote habe es ja genug gegeben. Philipp Wohlfeil, Fraktionsvorsitzender in Treptow-Köpenick, hält auch eine wahltaktische Entscheidung für denkbar. Beide Bezirkspolitiker sind sich jedoch einig, dass die Entscheidung keine Rolle spielt für eine eventuelle Fortsetzung der Koalition auf Landesebene. "Wäre er noch Senator, dann wäre es ein Problem", sagt Fischer. Solange er aber keinerlei Ambitionen zeige, in die Landespolitik zurück zu kehren, mache man sich da keine Sorgen.
Harte Kritik kommt dagegen von einem potentiellen Koalitionspartner nach der Abgeordnetenhauswahl im September: den Grünen. Mitglieder aus den Bereichen Migration und Integration veröffentlichten am Dienstag eine Erklärung, in der sie der SPD Wahlkampftaktik und den Verlust der Glaubwürdigkeit vorwerfen. "Deutschland macht jetzt einen weiteren Ruck nach rechts und die SPD trägt die Verantwortung", sagt Erstunterzeichnerin Canan Bayram, integrationspolitische Sprecherin. Sie habe aus der migrantischen Community viele Stimmen gehört, die die SPD nun als unwählbar bezeichneten.
Bayram war vor zwei Jahren von der SPD zu den Grünen übergetreten. Sie hatte ihren Wechsel bereits damals mit falschen Weichenstellungen unter anderem in der Flüchtlingspolitik begründet. "Meinungen wie sie Sarrazin in seinem Buch geäußert hat, sind in der SPD weit verbreitet", sagt sie. Eine mögliche Koalition nach der Wahl sieht sie jedoch nicht in Gefahr - schließlich habe auch die Bundes-SPD an der Entscheidung mitgewirkt.
"Der Fall Sarrazin und die SPD ist ja nicht neu, deshalb fallen wir jetzt auch nicht auf einmal vom Glauben ab" sagt die Grünen-Landesvorsitzende Bettina Jarasch. Wichtig sei, dass in eventuellen Koalitionsverhandlungen nicht der Ton herrsche, den Sarrazin anschlage.
Die Türkische Gemeinde Deutschland hat "alle SPD-Mitglieder, darunter auch die türkischstämmigen Mitglieder und MandatsträgerInnen, zu Protesten gegen die Entscheidung aufgerufen. Die SPD sei "vor populistischen und rassistischen Sichtweisen eingeknickt", heißt es in der Presserklärung. Konkrete Pläne für Protestaktionen gibt es jedoch noch nicht: "Wir wollen die Bühne für Sarrazin nicht noch größer machen", sagt etwa Angelina Weinbender vom Migrationsrat Berlin Brandenburg. Demonstrationen plane man deshalb derzeit nicht.
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