Debatte um Holocaust und Kolonialismus: Lob des Zweifels

Die Debatte um das Verhältnis von Holocaust- und Kolonialismus-Erinnerung ist von Opferkonkurrenz geprägt – und wird zu unversöhnlich geführt.

ein Mann mit regenschirm läuft durch das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin

Das Holocaust-Mahnmal in Berlin Foto: Rolf Zöllner/imago

Michael Rothbergs nun in deutscher Sprache erschienenes Buch „Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung“ hat, so scheint es, die sogenannte „Mbembe-Debatte“ noch einmal angefacht. Oder besser gesagt: Sie hat die Debatte, die zu großen Teilen eine An­einanderreihung sich unversöhnlich gebender Positionen war, weiter in die Richtung der Unversöhnlichkeit gelenkt.

Nachdem Achille Mbembe im vergangenen Jahr ins Zentrum einer polemischen Debatte um seinen – angeblichen oder tatsächlichen – Antisemitismus gerückt worden war, verlaufen die Frontlinien nun entlang von Rothbergs Thesen zur Notwendigkeit einer aufeinander bezogenen Erinnerungskultur von Holocaust und Kolonialismus im postkolonialen Zeitalter.

Im Zentrum der Diskussion steht erneut die Frage, inwiefern der Vergleich (nicht: Gleichsetzung) von Antisemitismus und Holocaust mit Formen des Rassismus und Kolonialismus die Singularität von Ersterem relativiere. Rothbergs wohlgesinnte, aber keineswegs unkritische Analyse antikolonialer, sich antirassistisch verstehender Intellektueller wie etwa Frantz Fanon, Aimé Césaire oder W. E. B. Du Bois und ihrer Positionierung zur Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden erscheint manchen als Banalisierung der Shoah, insbesondere im deutschen Erinnerungsdiskurs.

Lassen wir mal beiseite, ob man ausgerechnet Michael Rothberg, dem jüdisch-US-amerikanischen Professor für Holocaust-Studien Verharmlosung des Antisemitismus vorwerfen kann. Bemerkenswert ist, dass sich in diesen erbitterten Kämpfen um die Deutungshoheit der deutschen, europäischen und globalen Geschichte erstaunlich wenige His­to­ri­ke­r:in­nen zu Wort gemeldet haben. Andreas Eckert, Professor für die Geschichte Afrikas in Berlin, war eine Ausnahme.

Ein „zweiter Historikerstreit“

Woran liegt das? Die Sphären der Erinnerungskultur und der Geschichtswissenschaft bewegen sich, trotz ihrer gemeinsamen Bezugnahme auf das Vergangene, in zwei unterschiedlichen Diskursräumen. Dafür ist Rothberg ein gutes Beispiel. Obwohl er sich zur Unterfütterung seiner These von der Notwendigkeit der dialogischen Erinnerung historischer Beispiele bedient, betont er regelmäßig, dass er kein Historiker sei, sondern ein „historisch informierter Literaturwissenschaftler“.

Man könnte daher einwenden, dass es sich bei dieser Debatte mitnichten um einen „zweiten Historikerstreit“ handelt – es sind, wie auch Eckert richtig beobachtete, nämlich öffentlich kaum His­to­ri­ke­r*in­nen unter den mittlerweile vielfältigen Stimmen zu vernehmen.

Dabei gehört die Erforschung der Unterschiede und Verschränkungen von Kolonialismus und Nationalsozialismus und der ihnen zugrunde liegenden Ideologien schon seit geraumer Zeit zur geschichtswissenschaftlichen Praxis. Ein gutes, da nüchternes Beispiel hierfür ist etwa die Studie zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden in der kolonialrassistischen beziehungsweise antisemitischen Aufladung zentraler Topoi wie etwa „Arbeit“ von Felix Axster.

Jenseits der Opferkonkurrenz

Kann also der historisierende Blick der aktuellen Unversöhnlichkeit im Hinblick auf die Reizwörter „Singularität“, „Opferkonkurrenz“, „Relativierung“ und „Gleichsetzung“ etwas entgegensetzen? Das hängt ganz von der Bereitschaft des nichtwissenschaftlichen, jedoch historisch interessierten Publikums ab, sich mit den Ambivalenzen von Geschichte, ihrer Verflechtungen und verwirrenden Widersprüchlichkeiten auseinanderzusetzen, ohne in die letztlich unfruchtbare Debatte um historische und gegenwärtige Opferkonkurrenzen in Geschichte und Erinnerung zu verfallen.

Auch in Bezug auf den Widerstand gegen (Kolonial-)Rassismus und Antisemitismus können wir historisch auf zahlreiche Beispiele für Verschränkungen verweisen. Berühmt ist die Solidarisierung jüdischer US-Amerikaner:innen mit der Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King in den 1960er Jahren. In vorderster Front war der 1939 aus Berlin geflohene Rabbiner Abraham Jo­shua Heschel dabei.

Ein weiteres, wenig bekanntes Beispiel aus meiner eigenen Forschung: In den 1930er Jahren bezogen sich in London ansässige Schwarze Ak­ti­vis­t*in­nen und Intellektuelle aus den damaligen britischen Kolonien, etwa Jomo Kenyatta, der spätere erste Präsident Kenias, vielfach auf die Verfolgung der Jüdinnen und Juden im Nazi-Deutschland. Einerseits wollten sie auf die Bedingungen in den britischen Kolonien aufmerksam machen, andererseits Solidarität mit den entrechteten Jüdinnen und Juden bekunden.

Mehr Ambivalenz, bitte

Diese Solidarität wurde übrigens von der Londoner jüdischen Bevölkerung auf Demonstrationen Schwarzer, antikolonialer Organisationen gegen die britische Kolonialpolitik in den 1930er Jahren erwidert.

Angesichts der momentanen Unversöhnlichkeit erinnerungspolitischer Debatten mögen diese Beispiele auf den ersten Blick überraschen. Doch wieso eigentlich? Gebietet die ambivalente historische Realität es nicht, dass wir uns auch im erinnerungspolitischen Kontext über Kontinuitäten und Brüche von Holocaust, Antisemitismus, Kolonialismus und Rassismus wenigstens Gedanken machen, uns die (mal besseren, mal schlechteren) Argumente für eine stärkere Verschränkung anhören, ohne gleich auf der Absolutheit der eigenen Position zu beharren?

Die gegenwärtigen Erinnerungsdebatten könnten jedenfalls auf allen Seiten ein wenig mehr Zweifel, ein wenig mehr Reflexion über ihre eigene Genese und ihre Grundannahmen gut gebrauchen, ohne direkt eine bestimmte Opfergruppe in ihrer spezifischen historischen Erfahrung abzuwerten.

Michael Rothberg hat das – banal, aber dennoch treffend für die gegenwärtige Debatte – auf den Punkt gebracht: „Es ist möglich, sich an mehr als eine Sache zu erinnern.“ Angesichts der vielfältigen Gesellschaft, in der wir leben, ist dies nötig.

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ist als Sohn israelischer Eltern in Bonn aufge­wachsen. Er ist Historiker, hat in Berlin promoviert und leitet seit Frühjahr 2023 das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.

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