Debatte über digitalen Widerstand: Hacking, Leaking, Sabotage!
Das Bürgertum ruft zum Aufstand gegen die digitale Unterdrückung. Na dann: Reden wir über den Angriff! Eine Erweiterung des FAZ-Diskurses.
A ls in der Jungsteinzeit die ersten Menschen auf die Idee kamen, sich einen Acker anzulegen, begann etwas Großes. Eine Avantgarde beschloss, künftig auf den Stress zu verzichten, den das Nomadentum ihnen bescherte. Sie zogen sich ihr Gemüse im Garten. Das schätzen wir bis heute. Es war eine tief greifende Menschheitsrevolution. Als im 19. Jahrhundert eine technologische und wohlhabende Avantgarde beschloss, die Produktion von Dingen zu verschnellern und zu verstetigen, begann eine zweite Menschheitsrevolution.
Es gab plötzlich Maschinen, es gab davon schnell immer mehr – und die Menschen kämpfen seitdem darum, dass ihre persönliche und soziale Autonomie den Umgang mit den Maschinen dominiert; und nicht umgekehrt. Heute hat die Digitalisierung aller Lebensbereiche den Punkt erreicht, an dem wir uns mit der nächsten Menschheitsrevolution beschäftigen müssen.
Seitdem das Ausmaß der alltäglichen Überwachung bekannt geworden ist, ist es undenkbar geworden, die Digitalisierung zu feiern, ohne über die neue Unterwerfung des Menschen zu reden. Anders als zuvor ist heute nicht mehr nur die Herausforderung zu bestehen, seine Würde zwischen der privaten Welt und der Arbeitswelt zu erhalten: Vielmehr ist ein digitaler Verschmelzungsprozess in Gang gekommen, der die gesamte Identität erobert – einfach weil es so gut wie unmöglich ist, der Erhebung der eigenen Daten zu entgehen, ob beim Autofahren, beim Telefonieren, beim Arzt. Das ist die neue Totalitarismusdebatte.
Hans Magnus Enzensberger empfahl, alle Handys wegzuwerfen. Internet-Ikone Sascha Lobo revidierte seinen einstigen Optimismus im Hinblick auf das emanzipatorische Potenzial der Digitalisierung. Nun schrieb er: Als Medium der totalen Kontrolle untergrabe das Internet die Grundlagen der freiheitlichen Gesellschaft. Der weißrussische Intellektuelle Evgeny Morozov erdete die Debatte: Alle Instrumente der Befreiung können immer auch als Instrumente der Unterdrückung genutzt werden.
Seit wir wissen, über welche Daten Staaten wie die USA, Großbritannien, China, Russland und sicher viele andere verfügen, sind die intellektuellen Vordenker damit beschäftigt, zu ergründen, wie Selbstbestimmung im digitalen Zeitalter aussehen kann. Die Frage ist, welche Aufgabe dabei den Einzelnen und welche Aufgabe der Gemeinschaft – mithin: dem Staat – zukommt.
In dieser Debatte, in Deutschland angestoßen von FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher, deutet sich ein beachtlicher Konsens an: Wird hier etwa Widerstand zur Pflicht erklärt? Als Staatsrechtler, der er ist, sprach der Süddeutsche-Journalist Heribert Prantl kürzlich vor Datenschützern von einem staatlichen Verfassungsnotstand. Statt die Grundrechte der Bürger vor dem Zugriff durch andere Staaten zu schützen, beteilige sich die Bundesregierung strukturell an der Fortschreibung des Skandals. Verfassungsnotstand? Echt? Fragen wir Martin Schulz.
Unter der Überschrift „Warum wir jetzt kämpfen müssen“ schrieb der europäische Spitzenkandidat der Sozialdemokraten Anfang Februar in der FAZ ein leidenschaftliches Plädoyer: „Wie am Ende des 19. Jahrhunderts wird eine Bewegung gebraucht, die die Unverletzlichkeit der menschlichen Würde ins Zentrum ihrer Überlegungen stellt und die nicht zulässt, dass der Mensch zum bloßen Objekt degeneriert.“ FDP-Chef Christian Lindner schrieb daraufhin zustimmend: „Nötig sind offensive Antworten, um das zivilisatorische Potenzial dieser Technologie zu nutzen.“
Siehe da – das Bürgertums schreit nach Revolte. Allein: Es fehlt das revolutionäre Subjekt. Wir müssen über den Angriff reden.
Die Geschichte sozialer Bewegungen zeigt, dass politische Veränderungen dort erkämpft werden, wo die Kämpfe mit radikalen Mitteln ausgetragen werden. Tatsächlich erkennen wir, dass die einzigen Erfolge im Kampf gegen die globale Überwachung bislang auf militante Maßnahmen zurückzuführen sind: Die beispiellose Offensive, mit der Edward Snowden die USA herausfordert, ist das deutlichste Beispiel. Wie effektiv diese Form der außerparlamentarischen Politik ist, zeigt die Anzahl der Inhaftierten, Gestorbenen, Verfolgten: Jeremy Hammond, Rudolf Elmer, Gottfrid Svartholm, Barrett Brown, Nabeel Rajab, Aaron Swartz, Tron, Chelsea Manning, Julian Assange – lauter Outlaws, die die Welt veränderten.
Hacking und Leaking – das sind die Mittel, die sich in diesem politischen Kampf um das Digitale als geeignet erwiesen haben. Eine Hacking- und Leakingkultur offensiv zu fördern und zu verteidigen ist also die erste Plicht für jene, die sich nicht nur in Abwehrdiskursen bewegen wollen. Dies ist schließlich die gravierendste Eigenschaft der digitalen Unterwerfungsära: dass es gelungen ist, die Menschen rund um die Uhr damit zu beschäftigen, sich zu wehren. Die industrielle Revolution wurde zu einer Menschheitsrevolution, weil sie die Warenproduktion vergrößerte und in der Folge zu Arbeitnehmerrechten, Streikrecht, Urlaubsrechten führte. Die digitale Revolution wartet noch auf ihre Humanisierung.
Doch der Kampf um das Digitale ist ein Elitenprojekt: eine reizvolle Aufgabe für technisch Hochqualifizierte. Das revolutionäre Subjekt dieses Kampfes trat aus den sogenannten Crypto Wars in den USA der 1990er Jahre hervor und verkörpert sich am treffendsten in jenem Aktivistentypus, dessen Protagonisten sich als Cypherpunks bezeichneten. Sie hatten früh verstanden, dass die Technik, die sie im Alltag nutzten, eine hochpolitische Angelegenheit war. Sie kämpften dafür, verschlüsselt zu kommunizieren, und forderten den Staat heraus, der standardmäßig Einfallstore in Kommunikationstechnik verbauen lassen wollte, um immer Zugriff auf Gesprächsinhalte zu haben - etwa beim legendären Streit um den Clipper Chip.
Hier bildete sich jene globale Hacker-Elite, die noch immer die Avantgarde des ausstehenden Befreiungskampfes darstellt. Zu ihr zählen Programmierer wie Jacob Appelbaum. Heute hat diese Avantgarde ihr Quartier in Berlin bezogen. Es sind das Netzwerk des Chaos Computer Clubs und die politische Situation in Deutschland, die Menschen wie Appelbaum oder Wikileaks-Aktivistin Sarah Harrison anziehen. Mit ihnen kamen Unterstützer von Edward Snowden und Chelsea Manning aus aller Welt. Diese Menschen müssen wir schützen.
Die Ausgangsbastion für eine nächste, zivilgesellschaftliche Angriffswelle liegt also – eigentlich – nahe. Doch bislang ist weder die Strategie geklärt noch die Frage, wer sich dieser Avantgarde anschließen kann und darf. Diejenigen, die sich zu wehren wissen, betrifft die digitale Durchleuchtung schließlich am wenigsten. Für die Bezieher sogenannter Hartz-IV-Leistungen, die sich vor dem Staat existenziell offenbaren muss, ist die informationelle Ausbeutung und Erniedrigung, die sie erfährt, relevanter. Ihr muss die Befreiung gelten. Wie also kann Alltagswiderstand aussehen, der kein Informatikstudium voraussetzt? Funkmasten umsägen wie in den 1980er Jahren? Oder Beiträge schreiben in der FAZ?
Doch statt die Debatte über die Formen der Offensive zu suchen, leiden Blogger, Netzaktivisten, Piraten in Deutschland an ihrer Einhegung. Sie halten in Bundestagsausschüssen Vorträge, demonstrieren ein- bis dreimal im Jahr zu einem großen Anlass. Sie reden über Whistleblowerschutz und Informationsfreiheitsrechte, fordern Transparenzgesetze und Datenschutzgrundverordnungen. Sie wenden sich also an den Staat, um Zugeständnisse zu erbitten. Und so sitzen sie in einer Falle, die sehr ernst zu nehmen ist: Martin Schulz hat volles Verständnis für sie. Aber er kann ihnen nicht helfen.
Digitale Militanz - was ist das? Sie wissen, wie die Netzbewegung in die Offensive kommt? Sie können sagen, wie Radikalisierung im Zeitalter des Digitalen aussieht? Und wie der Widerstand von morgen ausehen muss? Dann diskutieren Sie mit: In der Kommentarspalte unter diesem Text - oder direkt mit Martin Kaul via Mail oder Twitter.
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