Debatte über Fotos aus Butscha: Krieg ist nicht erträglich
Wie viel Grauen Medien aus dem Ukraine-Krieg zeigen sollen, ist umstritten. Doch die Gewalt des Krieges zu verschleiern, darf keine Option sein.
Seit vergangenem Sonntag kann man den grausamen Bildern nicht mehr entkommen. Nach dem Rückzug der russischen Truppen aus Butscha, einem Vorort von Kiew, wurde ein Massaker sichtbar. Die Leichen Hunderter Ukrainer*innnen wurden auf den Straßen, in Kellern und in Vorgärten entdeckt. In der „Tagesschau“ wird am Abend ein Video des ukrainischen Verteidigungsministeriums gezeigt: Autos fahren Slalom auf Butschas Straßen, um keine der Leichen am Straßenrand zu überfahren. Es folgen Fotos internationaler Nachrichtenagenturen, die getötete Menschen mit gefesselten Händen zeigen, neben ihnen liegen ihre Fahrräder oder Einkaufstaschen. Die Gesichter der Leichen sind verpixelt.
Der Beitrag dauert nur wenige Minuten, beim Zuschauen verkrampft sich alles in der Bauchgegend, man muss gegen den Drang ankämpfen, sich die Hände vor das Gesicht zu schlagen. Dabei sind die gezeigten Aufnahmen fast zurückhaltend im Vergleich zu dem, was sich an diesem Abend in anderen Medien finden lässt. International werden Nahaufnahmen von Gesichtern der Leichen, abgetrennte Gliedmaßen oder ein Soldat mit einem getöteten Baby in den Händen gezeigt.
Die deutsche Presse geht unterschiedlich mit den Bildern um: mal aus der Ferne, mal verpixelt, mal in Frontalansicht. Auch auf Plattformen wie Instagram, Twitter, Reddit oder Facebook wurden unzählbare Fotos und Videos aus Butscha geteilt. Ähnlich präsent wie die Fotos war an diesem Abend in den sozialen Medien nur die Warnung: Zeigt keine Bilder der Opfer!
Denn wie viel Leid und Elend man aus einem Krieg zeigen soll, was den Opfern gerecht wird und wie viel man dem Publikum zumuten kann, darüber gibt es in Deutschland eine medien-ethische Debatte, die nicht erst seit dem russischen Massaker in Butscha existiert. Anfang März diskutierte die deutsche Öffentlichkeit über das Foto der Pulitzer-Preisträgerin Lynsey Addario, das auf der Titelseite der New York Times erschien. Darauf zu sehen war eine vierköpfige Familie, die auf der Flucht Opfer eines russischen Artillerieangriffs wurde. Und auch bei früheren Aufnahmen, die heute als ikonisch gelten, gab es Debatten: Etwa beim Foto des dreijährigen syrischen Alan Kurdi, dessen Leiche 2015 am Strand angespült wurde.
Es ist wichtig, Bilder zu zeigen
Die Motivation der Warnenden mag ehrenwert sein, sie argumentieren mit der Würde und den Persönlichkeitsrechten der Opfer. Oder sie weisen daraufhin, dass die Bilder zu grausam sein könnten, dass die Menschen verschrecken oder abstumpfen könnten. Kriegsbilder sind furchtbar. Doch es ist wichtig, sie zu zeigen. Und zwar aus mehreren Gründen: zur Dokumentation des Kriegsgeschehens und um die Weltbevölkerung zu informieren. Sie können wichtiges Beweismittel für Ermittlungsbehörden oder den internationalen Strafgerichtshof in Den Haag sein und sie können dafür sorgen, dass niemand mehr weggucken kann.
Denn Bilder funktionieren anders als Text: Sie berühren uns sofort emotional und hindern uns am Vergessen. Bilder haben die Macht, Kriege zu verändern, weil sie Kriegsparteien oder andere Beteiligte beeinflussen können. Und natürlich haben die Kriegsparteien ein Interesse daran, welche Bilder um die Welt gehen. Deswegen geht mit der Veröffentlichung von Kriegsfotografien eine Verantwortung einher.
Wie wäre die Situation ohne Bilder?
Eine der Kritiker*innen der Praxis, Bilder wie die aus Butscha weiterzuverbreiten, ist die Medienethikerin Claudia Paganini. Sie sagt im Interview mit der Süddeutschen Zeitung, dass Medien diese Bilder zeigen würden, um höhere Klickzahlen zu generieren. „Schockierende Bilder“ brauche man heute nicht mehr. Denn, so erklärt sie: „Wir haben in Europa einen Konsens, dass Krieg negativ ist.“ Als Alternative schlägt sie vor: „Bilder, die Empathie auslösen und positive Gefühle wecken.“ Doch es ist nicht die Aufgabe von Journalismus, mit Kriegsbildern „positive Gefühle“ zu wecken. Im Gegenteil: Journalismus soll dokumentieren und uns das Grausame erklären, das Hunderte Kilometer entfernt von uns stattfindet.
Russland führt einen Krieg, der auf Desinformationen basiert. So gibt es, obwohl Dutzende Journalist*innen in Butscha berichtet und fotografiert haben, die Vorwürfe, die Ukraine habe den Fall nur inszeniert. Und es gibt Menschen, die das glauben. Wie wäre die Situation, wenn es nicht einmal die Bilder gäbe?
Die Würde der Menschen bleibt gewahrt
In der Debatte, was angemessen ist, kommt immer wieder das Argument der Würde der Opfer auf. Doch die Würde wird den Menschen nicht durch die Fotos genommen, sondern durch die sexualisierte Gewalt, durch die Schändung und Ermordung. Bilder machen nicht schlimmer, was passiert ist, sie machen es sichtbar. Viele Angehörige, so auch im Fall der getöteten Familie, die von Addario fotografiert wurde, befürworten es, wenn Bilder verbreitet werden. Sie möchten, dass die Weltöffentlichkeit von den Verbrechen erfährt, die ihren Liebsten angetan wurden.
Doch der Deutsche Presserat hat zugleich natürlich Recht, wenn er zu einem sorgsamen Umgang mit den Fotos aufruft. Denn es kann nicht sein, dass es heißt: je grausamer, desto wirkungsvoller. Gewalt, die stattfindet, darf nicht verschleiert werden. Es ist also ein Balanceakt, und es ist eine journalistische Aufgabe zu entscheiden, was zu zeigen ist und was nicht. Wichtig ist neben der Verifizierung der Bilder, dass die Motivation klar ist: nämlich die Dokumentation und Aufklärung.
Auf Fotos verzichten ist keine Alternative
Deswegen ist es auch ein Unterschied, ob sie in sozialen Medien geteilt werden oder durch journalistische Berichterstattung eingeordnet und mit der nötigen Hintergrundinformation versehen sind. Die Forderung, ganz auf diese Bilder zu verzichten, geht mit dem Wunsch einher, die Situation für uns erträglicher zu machen. Doch Krieg ist nicht erträglich. Und so darf es auch hier vor Ort nicht dargestellt werden.
Natürlich kann man auch mal Pause vom Nachrichtengeschehen machen. Und es spricht auch nichts gegen Warnhinweise oder dagegen, dass Bilder erst nach einer Zustimmung angezeigt werden – gerade für jüngere Menschen kann das hilfreich sein und auch um Menschen mit Kriegs- und Fluchterfahrung vor einer Retraumaisierung zu schützen. Doch ganz auf die Fotos zu verzichten, kann keine Alternative sein. Die Grausamkeiten des Krieges dürfen nicht verschleiert werden – auch, wenn es schwer anzusehen ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland