Debatte Zugehörigkeitsgefühl: Ein paar Klicks. Fertig. Drin.
Immer wollen wir dazugehören, nicht alleine sein. Heute ist es so einfach, im Netz, mit wenig Aufwand – und schon ist das ich Teil vom wir.
I ch leide an einem merkwürdigen Tick. Ich nenne ihn „Chamäleonitis“. Rede ich mit jemandem, der anders spricht als ich, verändert sich auch bei mir die Farbe der Sprache. Telefoniere ich mit meinem armenischen Freund Benjamin, der seit Jahrzehnten in Deutschland lebt, dem Deutschen aber bis heute nur gebrochen huldigt, dann fallen auch von mir Sätze wie: „Ich morgen kommen, nein, du nix zum Essen vorbereiten.“ Das ist, zugegeben, schlimm.
Reise ich in die Schweiz, fange ich kurz nach Schaffhausen an, gurgelhafte Zischlaute auszustoßen. „Grrrüezi“, rufe ich dann laut vor mich hin. Sobald ich einem echten Schweizer begegne, antworte ich ihm auf Schwyzerdütsch – oder was ich dafür halte. Während meiner Jahre in Köln beherrschte ich bald schon den Singsang der Rheinländer so gut, dass mancher mich „fir ene Kölsche Jung“ hielt.
Oft allerdings führt Chamäleonitis zu Irritationen. Die Menschen glauben, ich wolle mich über sie lustig machen. Dabei ist alles ganz anders: Mein Tick entstammt diesem tiefen Bedürfnis, dazugehören zu wollen.
Als ich 16 war, wollte ich zur SPD gehören. Da war Willy vorne dran. Aber kaum war ich drin, war Willy weg und der neue Chef hieß Helmut. Den mochte ich nicht. Der verkaufte deutsche U-Boote nach Indonesien und deshalb schrieb ich ihm einen langen Brief, dass das nicht in Ordnung sei. Helmut antwortete mir damals nicht und deshalb trat ich wieder aus.
Nicht mehr dazuzugehören war aber auch keine Lösung und so trat ich ein paar Jahre später wieder ein. Das ging noch nicht online, man musste einen echten Antrag ausfüllen und per Post an das Erich-Ollenhauer-Haus nach Bad Godesberg schicken. Nun war ich endlich wieder „Genosse“. Dann kam der Umzug nach Köln.
So schöne Namen
SPD-Mitglied zu sein im Köln der 90er Jahre war wie Mitglied der Cosa Nostra in Neapel zu sein. „Man kennt sisch, man hilft sisch.“ Und die SPD half sich sehr. So sehr, dass einige der Genossen hinterher ins Kittchen mussten. Ich verließ diese Mafia fluchtartig und war wieder draußen. Es war ein gutes Gefühl, ähnlich dem, im letzten Moment den rettenden Sprung vor dem Abgrund geschafft zu haben.
In den Achtzigern war die Furcht vor Aids allgegenwärtig. Heute leben HIV-Positive in Therapie so lange wie Nicht-Infizierte und stecken auch ohne Kondom niemanden an. Ob die Schlacht gewonnen ist, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 19./20. Juli 2014. Außerdem: Man muss nicht immer glücklich sein, sagt der Philosoph Wilhelm Schmid. Und: Der Windparkbetreiber Prokon ist pleite. Wer ist der Mann hinter der Firma? Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Ich schwor mir, nie mehr irgendwo Mitglied zu werden, außer vielleicht bei der Arbeiterwohlfahrt – die hat einen so schönen Namen. Und bei der Gesellschaft für bedrohte Völker – der ist noch schöner.
Jeder Deutsche ist im Durchschnitt Mitglied in fünf Vereinen. Wenn ich die Statistik richtig verstehe, bedeutet das: Für jeden, der in keinem Verein Mitglied ist, gibt es einen mit zehn Mitgliedschaften. Deutschland ist Vereins-Weltmeister. Vielleicht hat es mit der weltberühmten „German Angst“ zu tun, der Angst vor dem Alleinsein. Im Verein bist du nie allein.
In der SPD auch nicht. Es fiel mir schwer, nicht dazuzugehören. Trotzdem habe ich es viele Jahre durchgehalten. Doch je schlimmer der Zustand dieser Partei wurde, desto mehr pfupferte es mich, wieder einzutreten. Pfupfern ist schwäbisch und bedeutet laut Wiki-Wörterbuch: „voll innerer Spannung und Unruhe sein, emotional erregt zu sein.“
Teil einer Mannschaft
Mein dritter Eintritt in die SPD verlief unspektakulär. Ein paar Klicks im Netz. Fertig. Drin. Vor einigen Tagen kam eine Postsendung mit dem Parteiprogramm und einer Anstecknadel. Dass die Nadel zerbrochen ankam, nahm ich als ungutes Omen. Eigentlich hatte ich mit einem komplizierten Verfahren gerechnet. Wer zum dritten Mal in dieselbe Partei eintritt, muss sich doch ein paar Fragen gefallen lassen: Wie lange haben Sie vor, dieses Mal Mitglied zu bleiben? Was waren Ihre Gründe für den dritten Beitritt? Planen Sie, in das Guinnessbuch der Rekorde zu kommen? Ich weiß auf all diese Fragen eine Antwort.
Als ich meinen Freunden davon erzählte, musste ich mir dagegen ganz andere Fragen anhören: „Was willst du bei diesen Idioten? Du hast doch noch nie in deinem Leben SPD gewählt, warum wirst du dann Mitglied?“ Sie verstehen nicht: Es geht nicht um Überzeugung. Es geht um Gefühle. Meine Mutter ist in der SPD. Mein Vater ist in der SPD. Mein Bruder ist in der SPD. Ich bin ein Familienmensch. Ich will dazugehören. Ich will Teil einer Mannschaft sein, auch wenn die SPD niemals die WM gewinnen wird.
Und wo ich nun schon einmal dabei war, Anträge auf Mitgliedschaft auszufüllen, beschloss ich, 35 Jahre nach meinem Austritt, auch wieder in die evangelische Kirche einzutreten. Ich glaube zwar nicht an ein göttliches Wesen und schon gar nicht an ein Leben nach dem Tod. Doch viele Werte der Kirche sind auch meine Werte, und außerdem bin ich irgendwie dankbar, dass die christlichen Heere die Osmanen 1683 vor Wien geschlagen haben. Von Wien bis Tübingen, meinem Wohnort, ist es gar nicht so weit.
Der Wiedereintritt in die evangelische Kirche ist etwas komplizierter als der Wiedereintritt in die SPD. Der Gemeindepfarrer persönlich bat mich zu einem klärenden Gespräch, zuckte allerdings nicht einmal mit der Wimper, als ich ihm eröffnete, Atheist zu sein. „Der Zweifel“, sagte der Herr Pfarrer, „gehört bei uns zum Glauben dazu.“ Dann legte er mir drei Formulare vor, die ich ungelesen unterschrieb.
Jetzt gehöre ich wieder dazu. Meinen örtlichen Bundestagsabgeordneten darf ich nun wieder duzen und schrieb ihm auch gleich einen Brief. „Warum, lieber Genosse Rosemann, hast du gegen die Vernehmung von Edgar Snowden in Deutschland gestimmt? Ich erwarte eine Erklärung!“ Meinen Impuls, sofort wieder auszutreten, unterdrücke ich. Ich will dieses Mal durchhalten. Genosse Rosemann hat mir bisher nicht geantwortet. Aber so leicht wird er mich nicht wieder los.
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