Debatte Stasi-Aufarbeitung: 20 Jahre Vorzensur

Bei der Verabschiedung des Stasiunterlagen-Gesetzes hatte die Regierung vor allem eines im Blick: Den Schutz vor unbequemen Enthüllungen.

Das Stasiunterlagen-Gesetz (StUG) wird nach 20 Jahren als großer Erfolg gefeiert. In Wahrheit ist es ein fauler Kompromiss zwischen Aktenöffnung und Staatsräson. Denn die Regierung Kohl hatte seinerzeit viel zu verbergen.

Seit Oktober 1989 vernichtete die Stasi ihre eigenen Unterlagen. Deshalb kam es Anfang Dezember 1989 zu ersten Besetzungen von Bezirksdienststellen. Doch die Aktenvernichtung in der Berliner Zentrale ging systematisch weiter. Erst am 15. Januar 1990 wurde eine "Besetzung" des Ministeriums inszeniert. Äußerlich übernahmen Volkspolizei und Staatsanwaltschaft das Gelände. Intern wurde das Vernichtungswerk bis Ende September 1990 intensiv fortgesetzt.

Den ersten Gesetzentwurf erarbeiteten 1990 Stasi-Kader. Danach sollten fast alle Akten 1991 vernichtet werden. In Bonn war daran zunächst niemand interessiert. Das änderte sich, als bekannt wurde, was die Stasi wusste. Denn die Bundesregierung war umfassend abgehört worden. Dabei regierte Kohl ja noch per Telefon. Die Barschel-Affäre lag drei Jahre zurück. Illegale Waffengeschäfte waren im Gange. Hinzu kam die Parteispendenaffäre. Bonn musste alarmiert sein.

Klaus Bästlein ist 1956 geboren. Er ist Volljurist und promovierter Historiker und war bei der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, der Senatsverwaltung für Justiz sowie dem Berliner Landesbeauftragten für die Stasiunterlagen tätig.

Amnestie und Aktensperrung

Die Regierung verhandelte mit der Stasi-Generalität, um die Veröffentlichung abgehörter Telefonate zu verhindern. Als Gegenleistung waren eine Amnestie und die Sperrung der Akten vereinbart. Die Bundessicherheitskonferenz stimmte am 21. Juni 1990 zu. Die SPD-Fraktion in der Volkskammer hielt dagegen. Ihr folgten West-SPD, "Grüne" und einige FDP-Politiker. Die Pläne scheiterten.

Im Juni 1990 wurde ein Volkskammer-Ausschuss gebildet. Er erarbeitete einen eigenen Gesetzentwurf. Der sah die Nutzung der Stasi-Akten auch für die "politische, historische und juristische Aufarbeitung" vor; es fehlte aber noch das Recht der Betroffenen auf Akteneinsicht. Die Volkskammer stimmte zu. Doch die Bundesregierung lehnte das Gesetz ab. Die Volkskammer empörte sich. Bonn musste nachverhandeln.

Am 31. August 1990 fand sich ein Kompromiss: Die Grundsätze des Volkskammer-Gesetzes sollten künftig beachtet und ein Sonderbeauftragter eingesetzt werden. Das wurde Joachim Gauck.

Der Mann für die Staatsräson

Um peinliche Enthüllungen zu vermeiden, installierte die Bundesregierung noch einen zweiten Mann in der neuen Behörde, der die Staatsräson über die Aufklärung stellte. Der Mann war Hansjörg Geiger. Er wurde der erste Direktor. Bezeichnend ist sein weiterer Weg: 1995 stieg Geiger zum Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz auf, 1996 wechselte er an die Spitze des Bundesnachrichtendienstes und 1998 als Staatssekretär ins Bundesjustizministerium.

Genau so etwas wollte das Grundgesetz nicht. Es verlangt die Trennung von Justiz, Polizei und Nachrichtendiensten. Doch dieses institutionelle Trennungsgebot können Personen unterlaufen. Die Bedeutung Geigers für die formativen Jahre der Behörde kann gar nicht überschätzt werden.

Stasi-Kader übernommen

Die Personalpolitik von Geiger und Gauck wurde zum Fiasko. Viele hauptamtliche Stasi-Kader, darunter über 70 Offiziere, bleiben im Dienst. Sogar Spezialisten zur "Zersetzung" der Persönlichkeit wurden übernommen. Das galt für Oberst Gerd Bäcker und Oberstleutnant Bernd Hoepfer. Zahlreiche SED-Genossen aus dem Staatsapparat kamen hinzu.

Der Bürgerrechtler Arnold Vaatz bemerkte dazu: "In dieser Behörde ist der Geist der DDR-Bürokratie konserviert." Stasi-Leutnant Peter Schmidt brachte es unter Marianne Birthler sogar zum Systemmanager der EDV.

Unliebsame Oppositionelle wie Reinhard Schult hatten dagegen keine Chance. Gauck und Geiger wollten sie nicht. Die Historiker Armin Mitter und Stefan Wolle mussten im März 1991 ausscheiden. Sie hatten kritisiert, dass ein Gutachten über Lothar de Maizière für die Bundesregierung geschönt worden war.

Heute bedauert Gauck die Entlassung. Der Vorgang zeigte aber: Wer sich Wünschen der Kohl-Regierung widersetzte, musste gehen oder wurde nicht eingestellt - so wie viele DDR-Oppositionelle.

Zensur vor Akteneinsicht

Geiger verfasste auch den Entwurf für das StUG. Entscheidend war die staatliche Kontrolle über den Aktenzugang. Die wollte Geiger schon beim Bundesarchivgesetz von 1988, konnte sie aber erst beim StUG durchsetzen. So heißt es in § 32, Abs. 1: "Unterlagen mit personenbezogenen Informationen [das sind fast alle Stasi-Unterlagen, Anm. d. Verf.] dürfen nur zur Verfügung gestellt werden, soweit durch deren Verwendung keine überwiegenden schutzwürdigen Interessen der dort genannten Personen beeinträchtigt werden." So muss jede Akte vor der Einsicht überprüft werden, was einer Vorzensur gleichkommt.

CDU, SPD und FDP schlossen sich diesem Papier an. Dagegen brachte Ingrid Köppe für Bündnis 90/Die Grünen einen Entwurf ein, der weitgehend dem Volkskammer-Gesetz entsprach. Er war aber um das Recht der Betroffenen auf Akteneinsicht ergänzt. Insbesondere fehlte die "Geigersche Klausel", die die Forschungsfreiheit unter den behördlichen Eingriffsvorbehalt stellt, damit brisante Vorgänge aus der bundesdeutschen Politik nicht bekannt werden.

Schon bei der Anhörung im Bundestag am 27. August 1991 übten Stasi-Opfer heftige Kritik. Der Schriftsteller Jürgen Fuchs, jahrelang von der Stasi drangsaliert, fragte: "Ist all das, was geschehen ist, tatsächlich nur behördlich zu regeln? Meine Antwort wäre hier nein. Vor Ort, wo es geschah, müssen die Archive geöffnet werden - natürlich nach Recht und Gesetz, aber ohne die schreckliche Behörden- und Verwaltungsrhetorik, die um sich greift."

Fuchs meinte damit Gauck und Geiger. Reiner Kunze fügte hinzu: "Diese Behörde ist eben etwas anderes als ein Postamt." Transparenz wurde gefordert, von Gauck verbal begrüßt, dann aber unter Hinweis auf die Staatsräson abgetan.

Dieser Beitrag beruht auf einem Vortrag bei einer Veranstaltung (pdf) des Berliner Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen im Dezember 2011. Eine Erwiderung auf diesen Text ist in Arbeit.

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