Debatte Rot-Rot-Grün ohne Perspektive: Verantwortliche Gesinnungsethiker
Rot-Rot-Grün scheint rechnerisch unmöglich. Darüber kann sich die Linkspartei freuen: Es bewahrt sie vorerst vor quälenden Selbstfindungsprozessen.
W eiß noch jemand, wofür die Chiffre R2G steht? Na gut, sie spielt ja auch in den derzeitigen Koalitionsüberlegungen nur noch theoretisch eine Rolle: eine Regierung von SPD, Linkspartei und Grünen, also Rot-Rot-Grün – oder, wer es ganz kurz mag: R2G.
Eigentlich sprechen nur noch SPD-Rechte wie Klaus von Dohnanyi davon, der am Samstag in der Welt erneut vor R2G warnte („ein Verhängnis für die Bundesrepublik“) und so die Erinnerung lebendig hält. Die Dohnanyis, Kahrs und Oppermanns der SPD wollen nicht mit der Linkspartei paktieren, auch die Grünen-Realos sind mehr als skeptisch – und rein demoskopisch ist eine solche Regierung ausgeschlossen.
Erleichtert dürfte darüber vor allem die Linkspartei sein. Nicht weil Mitglieder und Wähler grundsätzlich etwas dagegen hätten, wenn jemand aus der Linkspartei mal ein Bundesministerium leiten würde oder auch nur eine Gesetzesinitiative – 34 gab es in dieser Legislaturperiode – die Chance hätte, umgesetzt zu werden. Die beiden Parteivorsitzenden und der männliche Spitzenkandidat Dietmar Bartsch sind bekennende R2G-Fans. Sahra Wagenknecht ist zwar nicht enthusiastisch, aber wenn’s drauf ankäme, wäre sie dabei.
Wichtige Fragen nicht geklärt
Es hapert also nicht am Willen. Aber an den Möglichkeiten, unter anderem den eigenen. Die Linkspartei ist einfach noch nicht bereit für eine Bundesregierung. Sie hat wichtige Fragen, die garantiert irgendwann in den nächsten vier Jahren aufgerufen werden, nicht geklärt: Für welches Europa steht sie eigentlich? Für ein Europa der Nationalstaaten, die solidarisch aus dem Euro aussteigen, oder für eine EU, die mehr zusammenhält als nur die Währung? Und wie ist das mit Auslandseinsätzen der Bundeswehr? Sind sie zu billigen, wenn die UN das Mandat erteilt, wenn es etwa um die Umsetzung des Friedensabkommens in Darfur geht – Gewaltanwendung eingeschlossen? Oder lehnt man alle Auslandseinsätze grundsätzlich ab und löst die Bundeswehr auf? Ist Gewalt ein legitimes Mittel der Politik, wenn Bruderstaaten wie Venezuela sie praktizieren?
Es sind Fragen, die sich nicht mal rasch zwischen zwei Sondierungsgesprächen klären lassen. Um sie zu beantworten, muss sich die Linkspartei über ihre Rolle in der bundesdeutschen Parteienlandschaft und über ihr Selbstverständnis klar werden. Ist sie Protestpartei und Sammelbewegung, die sich bereithält fürs letzte Gefecht, den Kapitalismus zu kippen? Oder sieht sie sich als Korrektiv marktliberaler Politik und ist bereit, auf Regierungsebene Verantwortung zu übernehmen? In den Ländern scheint die Frage geklärt – die Linkspartei ist in drei Bundesländern an der Regierung beteiligt und stellt in einem davon den Ministerpräsidenten; auch im Saarland stand sie bereit. Doch der Pragmatismus der Landesebene ist nicht ohne Weiteres auf die Bundesebene übertragbar.
Die Linkspartei ist eine Partei, die wie keine andere Gegensätze vereinbart. In ihr tummeln sich Menschen, die der Soziologe Max Weber einst als Gesinnungsethiker bezeichnete – Idealisten, die ihre Handlungen danach beurteilen, ob sie gut gemeint sind. Dem Gesinnungsethiker stellte Weber den Verantwortungsethiker entgegen; heute würde man ihn Realpolitiker nennen. Der guckt pragmatisch auf den Ertrag seiner Handlungen und wirft hinderliche Prinzipien auch mal über Bord. Weber beschrieb Extreme des politischen Handelns.
Auf Linkspartei-Bundesparteitagen sitzen diese Extreme im gleichen Saal. Das ist schon eine Leistung, wenn man bedenkt, dass gerade linke Parteien schnell zur Spaltung neigen, wenn eine Gruppe meint, dass die andere von der reinen Lehre abweicht. In Frankreich traten sechs irgendwie linke Parteien bei den Präsidentschaftswahlen gegeneinander an.
Spaltertendenzen elegant kanalisiert
Die Linke hat Spaltertendenzen elegant kanalisiert, indem sie unterschiedliche Strömungen akzeptiert, die wie Parteien in der Partei agieren – mit eigenen Satzungen, Webseiten und Treffen. Da gibt es das Forum Demokratischer Sozialismus, das viele Reformer aus den ostdeutschen Landesverbänden bindet und als eine Art linke SPD wahrgenommen wird.
Da gibt es die emanzipatorische Linke, die für das bedingungslose Grundeinkommen wirbt und Berührungspunkte zu Grünen hat. Auf der anderen Seite des Spektrums stehen die Antikapitalistische Linke und die Kommunistische Plattform, wo sich die Gesinnungsethiker treffen, die Angst davor haben, dass mit einer Regierungsbeteiligung der Ausverkauf linker Grundsätze beginnt.
Die Linke präsentiert sich als „gleichsam informelles Mehrparteienbündnis mit (…) mit konträren Vorstellungen über ihre Rolle und ihren Gebrauchswert“, wie Cornelia Hildebrandt von der parteinahen Rosa-Luxemburg-Stiftung bereits 2010 analysierte. Am Befund hat sich wenig geändert. Vielleicht agieren die verschiedenen Strömungen heute nicht mehr so verbissen gegeneinander wie damals; das heißt jedoch noch nicht, dass sie miteinander agieren.
Best of Wahlkampf
Die Gefahr, dass das Projekt Linkspartei implodiert, wenn man Grundsatzfragen zur Abstimmung stellt, ist zweifellos da. Aber dennoch muss die Linke einen Weg finden, sich geschlossen und pluralistisch zugleich zu präsentieren. Sie muss gerade in den hier angesprochenen heiklen Fragen deutlich machen, was sie will, statt nur zu agitieren, was gar nicht geht.
Weber widerlegen
Kurz: Sie muss Weber widerlegen – und verantwortliche Gesinnungsethiker hervorbringen. Ein solcher Selbstklärungsprozess machte es den R2G-Kritikern bei Grünen und SPD dann auch nicht mehr so einfach, die Linke für das Scheitern dieser Option verantwortlich zu machen. Vielmehr ließen sich mit linken SPDlern und Grünen Vorstellungen für ein gemeinsames Regierungsprojekt R2G entwickeln.
Denn eines ist klar: Egal, wie hoch oder wie tief man die Linkspartei schätzt – am Ende ist nicht sie es, die darüber entscheidet, ob 2021 eine Regierung links der CDU gebildet wird. Sondern die SPD. Die Linkspartei kann die SPD vor sich hertreiben. Sie muss das aber wirklich wollen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Amnesty-Bericht zum Gazakrieg
Die deutsche Mitschuld
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Wirbel um Schwangerschaftsabbruch
Abtreiben ist Menschenrecht
Nach Recherchen zum Klaasohm-Fest
Ab jetzt Party ohne Prügel
Hilfslieferungen für den Gazastreifen
Kriminelle Geschäfte mit dem Hunger
Kritik an Wohnungspolitik der Regierung
Mietenpolitik der Ampel? Deckel drauf!