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Debatte RealpolitikDie Wahnwelt des Machbaren

Kommentar von Georg Seeßlen

Vom Elend des Realismus in der Politik. Wie man ganz realistisch feststellen muss: Der Realismus ist kein Humanismus.

Der Inbegriff des militanten Realismus. Foto: ap

N atürlich denkt man zunächst, dass es für eine Politikerin oder einen Politiker das Wichtigste überhaupt sei, ein Auge für das Wirkliche zu haben. Dafür, wie die Dinge wirklich sind (und nicht wie man sie sich wünscht), und dafür, was sich in dieser Wirklichkeit realistischerweise machen lässt und was nicht. Dafür gibt es Sätze wie „Politik ist die Kunst des Möglichen“.

Aber Realismus in der Politik bedeutet auch: Sich abfinden mit den Gegebenheiten, das Scheitern einkalkulieren, und einen Unterschied akzeptieren zwischen dem Ziel und seiner Erreichbarkeit und damit zwischen Programm und Handlung.

Man weiß gar nicht, was von alldem fataler ist. Der Berufspolitiker als Realist kann nicht unschuldig bleiben. Sein Realismus muss über das (falsche!) „Der Zweck heiligt die Mittel“ hinausgehen. Oftmals führt das zu einer surrealistischen Verkehrung: Der „realistische“ Sozialdemokrat versucht den „Konservativen“ an antisozialer, nationalistischer und undemokratischer Praxis zu übertreffen.

Allgemeiner: Der realistische Berufspolitiker ist gleichsam strukturell der Mensch, der das Gegenteil von dem macht, was er sagt. Weil das Tun einer anderen Form des Realistischen entspricht als das Sagen. Es ist realistisch, hinter einem Sagen das Tun zu verbergen. Es ist, nur zum Beispiel, realistisch, das Volk als dumm, träge und gewalttätig anzusehen.

Paranoider Realismus

Wenn das Volk und die Regierung sich gegenseitig realistisch ansehen, dann erwarten sie nicht viel voneinander, und von dem wenigsten in aller Regel das am wenigsten erfreuliche. Der Realismus verspricht, uns vor „überzogenen Erwartungen“ zu bewahren, und er verspricht auch, dass man voneinander nicht zu viel fordert. Ein realistisches Bild der Politik sagt, dass machtgierige, korrupte Idioten ein Volk von verblödeten, aggressiven und niederträchtigen Halunken bedienen und betrügen. Es ist aber noch realistischer, so was nie laut zu sagen.

Allerdings ist dieser Realismus auch paranoid. Der Berufspolitiker lebt in einer Wahnwelt des Zweckmäßigen und des Machbaren. Machbar ist nur, was sich verkaufen lässt, zweckmäßig nur, was bezahlt wird bzw. bezahlt werden kann. Wir bilden uns ein, ein guter Politiker sei einer, der seinen eigenen Lügen glaubt. Aber das ist ein Phantasma. Der gute Politiker glaubt hingegen, dass es gut sei zu lügen oder nicht die ganze Wahrheit zu sagen. Der realistische Politiker ist mithin eine psychisch kranke Person, die der festen Überzeugung ist, alle anderen seien die psychisch Kranken.

Die Fatalität steigert sich, wenn mithilfe der Medien auch der Wähler (oder Nichtwähler) sich in den „realistischen“ Berufspolitiker hineinfantasiert wird. Er oder sie identifiziert sich mit einem Gegenüber, das aus lauter Realismus auch ihn oder sie belügen muss, zugleich aber eine irreale Rhetorik aufrecht erhält. Realistische Völker schauen ihren realistischen Regierungen beim Lügen zu, und müssen es realistisch finden, betrogen, ausgebeutet und gedemütigt zu werden. Wir in Deutschland des Jahres 2015 haben so eine „realistische“ Regierung.

Es ist also paradoxerweise dieser Realismus, mit dem die Politik die Wirklichkeit aus den Augen verlieren muss. Die Wirklichkeit wird eingeschrumpft und zugleich gespalten.

„Kindische“ Unschuld

Den militanten Realisten, die an ihren eigenen Realismus so heftig glauben wie ansonsten nur ein Paranoiker an seine Paranoia, stehen weder die Spinner, Träumer, Utopisten, Visionäre noch die Fundamentalisten, Ideologen, Überzeugungstäter gegenüber, sondern zunächst einmal ganz normale Menschen, die Wünsche haben und Ideen. Der erste Feind des Realismus ist die Unschuld. Deshalb nennen sich die Realisten gern „reif“ und „erwachsen“ und alle anderen „kindisch“ oder „unreif“.

Dieser Realismus ist eine Krankheit, die nur schwer zu heilen ist, weil sich die Realisten selber als ärztliche Autorität begreifen. Sie begreifen alles, was ihrem Realismus zuwiderläuft, als „krank“, und das schließt einfache Dinge wie Ehrlichkeit, Moral und Hoffnung ein. Daher kann der realistische Politiker leicht verantwortungslos sein; für alles, was er tut oder unterlässt, ist ja nichts anderes als diese Wirklichkeit zuständig, die man nie und nimmer verändern kann. Nach dem Verschwinden der Götter und dem Verlust der Geschichte ist diese Wirklichkeit das Maß aller Dinge und die Entschuldigung für alles. Man darf sich gegen sie nicht versündigen. Man kann sie aber im eigenen Sinne interpretieren.

Der realistische Politiker geht in die Politik, weil er dort angeblich „etwas gestalten“ will. Sobald er aber an der Macht ist, erklärt er die „Alternativlosigkeit“ seiner Entscheidungen. Eine realistische Entscheidung ist die „genau richtige“, weil „einzig mögliche“, was zum Beispiel durch den „Wählerwillen“, die „Gesetzeslage“ oder die „Machtverhältnisse“ legitimiert wird. Die realistische Politik entspricht insofern dem Phantasma des freien Markts, als sich dort stets großes Chaos und widerstrebende Impulse zur einzigen Wahrheit formen. So will sich auch der realistische Politiker „natürlich“ verhalten.

Politik ohne Subjekt

Einer der Preise, die dafür bezahlt werden müssen, ist die Trivialisierung der Politik. Es lohnt nicht, Interesse an realistischer Politik zu zeigen. Da sie die Verhältnisse widerspiegelt und kein politisches Subjekt mehr kennt – gleichgültig, ob es sich um einen verkappten Mafioso oder eine pflichtschuldige Beamtenseele handelt –, ist sie bloßer Widerschein.

Kein Drama, höchstens hier und da eine kleine Groteske (sexuelle Verfehlungen oder gefälschte Doktorarbeiten).

Und so entsteht auch eine Art der realistischen Berichterstattung, eine „realistische Presse“, die von einem schrumpfenden Heer von Schreibern erzeugt wird, die sich eher als Berater, Propagandisten, Erfüller dieses Realismus sehen und ihn außerdem bewachen: Der Politiker wird am ehesten kritisiert, welcher den Pfad des politischen Realismus zu verlassen droht (und sei’s, dass ihm eine verbale Fehlleistung unterläuft, die wirkliche Absichten hinter der Anpassung an die Realität verrät).

Wenn sich aber Presse und Politik auf denselben „Realismus“ beziehen, während man allenfalls noch um Stilfragen ringt, trivialisiert sich das Verhältnis zwischen beiden. Die Gleichung zwischen realistischer Politik und ihrem Medienecho provoziert das Verschwinden der Wirklichkeit. Denn wenn die Dinge nun so sind, wie sie sind, sind sie irgendwie auch wieder überhaupt nicht, da kann man nichts machen. Realistisch betrachtet, geht diese politische Wirklichkeit immer weniger Menschen etwas an. Deshalb loben sie sich Katastrophen und Promiskandale.

Verwaltung als Zeitgewinn

Die realistische Politik gibt zwar vor, die Verhältnisse und auch Stimmung und Wille des Volkes zu repräsentieren, bringt aber durch diesen Rückkopplungseffekt das politische Subjekt zum Verschwinden. Alle Macht geht vom Volke aus und wird wie ein Pingpongball zu ihm zurückgespielt. Probleme löst man so nicht.

Realistische Politiker können auch gar keine Probleme lösen; was sie aber gut können ist, Probleme verwalten. Wir können uns die Gesellschaft am Übergang zur Postdemokratie als eine der ausgedehnten Problemverwaltungen vorstellen. Nichts wird gelöst, aber alles registriert. Verwaltung gewinnt der Macht Zeit. Zur gleichen Zeit aber werden Probleme durch Verwaltung immer unlösbarer.

Der realistische Politiker hat eher selten das, was man Charisma nennt, notwendig aber das aus Unterhaltung und Werbung bekannte „Image“. Er oder sie drücken das Zutrauen in die Verwaltbarkeit und die Abwesenheit eines beunruhigenden Lösungsvorschlags aus. Dass Angela Merkel das Image einer „Mutti“ bekam, erklärt nicht nur einiges von ihrem politischen Erfolg, sondern auch, kulturgeschichtlich und psychologisch, den Muttermythos in Deutschland. Sie kann protektiv, aber auch ziemlich herzlos sein. Es gibt nichts Trostärmeres, als von einer solchen Mutter berührt zu werden.

Es ist die Mutter, die uns den Realismus beibringt. Sie ist das Inbild des militanten Realismus. Denn „realistisch“ ist, wie im normalen Alltagsleben, so auch in der Politik, immer auch ein Synonym für Eigennutz. Wer zuerst an sich selber denkt, ist ein Realist: Realistisch betrachtet, können wir nicht das Sozialamt der Welt sein. Realistisch betrachtet, können wir uns die Flüchtlinge nicht leisten. Realistisch gesehen, sollen die Griechen zum Teufel gehen. Realismus ist, realistisch betrachtet, das Gegenteil von Humanismus.

Und Deutschland ist eines der realistischsten Länder der Welt.

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20 Kommentare

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  • Wer Andere für psychisch krank erklärt, sollte vorsichtig sein, dass er nicht einfach eine Charaktereigenschaft beschreibt, die auch bei ihm selbst vorhanden sein könnte, Herr Seeßlen.

     

    Im Einzelnen:

     

    1. Sie vertauschen gerne die Begriffe "Realist" und "Zyniker" bzw. "Misantrop", habe ich den Eindruck - oder aber Sie betrachten selbst die Realität vornehmlich zynisch.

     

    Tatsächlich schließt Realismus nicht aus, Ideale zu vertreten und auch bei Anderen zu erkennen. Der Wunsch der überwältigenden Mehrheit der Menschen, sich zu den "Guten" zählen zu dürfen, gehört GENAUSO zur Realität wie die (manchmal recht engen) Grenzen dessen, was dieselben Leute bereit sind zu opfern, um tatsächlich "gut" zu sein. Ein Realist erkennt also auch Chancen einer Situation - und zwar im Gegensatz zum Utopisten nach Möglichkeit da, wo auch wirklich Chancen sind, nicht wo er gerne welche hätte.

     

    Das macht den Erfolg wesentlich wahrscheinlicher, wenn man diese Chancen ergreift. Und es mindert die Versuchung, den Konflikt zwischen Utopie und Realität lösen zu wollen, indem man die realen Menschen zu ihrem vermeintlichen Glück zu zwingen versucht.

     

    2. Beim Thema "Alternativlosigkeit" sind die Realisten, die ich kenne, immer noch die harmlosere Spezies. Es stört nur die Utopisten immer ganz besonders, wenn ein Entscheider eine Handlungsweise für alternativlos erklärt, die von der Alternative, die sie selbst für mindestens so alternativlos halten, abweicht.

     

    Tatsächlich ist der Realist notwendigerweise weniger dogmatisch aufgestellt als der Utopist. Deshalb ist es nur logisch, dass er eine feinere Antenne dafür hat, wenn etwas NICHT alternativlos ist, sondern tatsächlich eine Auswahlmöglichkeit besteht. Für einen Utopisten besteht immer der zwingende Primat seiner Wünsche und Ideale und damit nur in ganz seltenen Konfliktfällen (innerhalb dieses Zielsetzungssytems) mehr als die eine "einzig richtige" Lösung, die ihm vorschwebt.

    • @Normalo:

      Der Versuch Realismus der Utopie schier entgegenzusetzen, oder meinetwegen dem Idealismus etc, ist die Sackgasse, in die Sie sich damit begeben. Nur allein Kant beschrieb schon zahlreiche Formen des Realismus, und wie Sie den Begriff gebrauchen, ist´s als ob ein Kind fragt, wo man Zuckerwatte bekommt und Ich antworte ihm: Im Lebensmittelhandel. Sie machen im übrigen den gleichen Fehler wie Herr Seesslen.

      Realismus stelle ich gern in Anführungszeichen, denn die Benutzung ist ein semantisches Minenfeld. Also mal ganz "realistisch" jetzt !

      • @lions:

        Ich weiß nicht so ganz genau, was Sie mir sagen wollen - außer dass Sie Kant gelesen haben. Für mich ist Realismus die Neigung - oder Fähigkeit -, bei der Umsetzung von Zielen, aber teilwiese auch schon bei ihrer Definition, die realen Gegebenheiten mit zu berücksichtigen und Beides aneinander anzupassen. Davon ausgehend, dass jede Handlung irgendein Ziel hat.

         

        Das Gegenstück dazu ist die rein an Idealen und Wünschen orientierte Vorgehensweise, die ihre Ziele gern als kategorische Imperative versteht und lieber Alles - einschließlich der Möglichkeit des kompletten Scheiterns - daran setzt, die Realität diesen Imperativen anzupassen, als von ihnen irgendwie abzuweichen. Der Einfachheit halber habe ich das "Utopismus" genannt. Idealismus ist hingegen für mich KEIN Gegenteil von Realismus, auch wenn Realität und Ideale in concreto teilweise in Konflikte geraten.

         

        Und "Zuckerwatte gibt's im Lebensmittelhandel" wäre in dieser Allgemeinheit schlicht eine unwahre Aussage. Also erklären Sie bitte, welchen Fehler in meiner verwendung des Begriffs Sie damit meinen.

      • @lions:

        "Kant beschrieb schon zahlreiche Formen des Realismus,.."

         

        Hab das jetzt nicht parat. Ist Pessimismus auch eine Variante des Realismus?

  • "Der realistische Politiker und seine Wirklichkeit" . Oder : Wie ein Feuilletonist als geistiger Überflieger hoch über der Stratosphäre das aktuelle "Überdispositiv" von und in Deutschland erschaut hat - wertfrei , objektiv , harmlos , folgenlos , nutzlos .

    Ach nein , doch nicht ganz so harmlos , weil affirmativ , geistig abrüstend , Kritik am Bestehenden in bloßes Geschwätz auflösend .

    Seesslen , ein Postmoderner , der die Flinte seiner Vernunft ins Korn des absoluten Relativismus geworfen hat .

  • Solange die Neoliberalen Europa gegen die Wand fahren, sind sie kein “Realismus”, sondern eine realitätsfremde Ideologie.

  • Herrlich! Der Seeslens sagts `frei raus´.. auch wenn er die Saiten seiner Geige ganz heftig überspannt und `Absolute´ Begriffe (Hegel, Kant) .. wie Solidarität, Liebe, das Mitmenschliche ,"realistisch" (seufz*) relativiert!

    Die mütterliche Weiblichkeit der Frau, in ihrer schier unendlichen Sorge, Liebe, Solidarität, Anerkenntnis zum schwachen, neugeborenen Kind .. ist, zufolge Hegel ein primäres Axiom der Begründung des Humanismus schlechthin!

    Diese `unendliche Liebe, Sorge´ der weiblichen Mütterlichkeit zum Kind ist intuitiv und visionär!

    Wodurch die allgemeinen Begriffe von Humanismus, Frieden, Hoffnung und Solidarität eine art `futuristisch visionäre´, phantastische Dimension enthalten..

    Die "Kalte Vernunft" des Geistes des ökonomisch/politischen Realismus, als oftmals abhängig von ideologisierter Dialektik `wissenschaftlicher´ Wissensakkumulation´( als Kultur relativer Begriffe..) ..

    ist ständig aktiv, um die Absolutbegriffe mütterlich/weiblicher Liebe, Sorge und visionärer Solidarität zu instrumentalisieren, zu relativieren... oder eben zu barbarisieren!

    Das `Mutterbild´ Herrn Seeslens: "..als Inbild des militanten Realismus.." ist m.E. eine hässliche, barbarisierte, relativierte, rationale Interpretation des weiblich/mütterlichen Menschseins..

    dem die Naturkraft eines fruchtbaren, visionären Unterleibes .. abhanden gekommen ist!

  • "Der realistische Politiker ist mithin eine psychisch kranke Person, die der festen Überzeugung ist, alle anderen seien die psychisch Kranken."

    Ein Indiz für narzisst. Psychopathie. Während der Realpolitiker seine Karriere mit dem Vorwand einer altruistischen. Idee vorantreibt, verbirgt er die Sucht nach Glanz und Glorie bis zu dem Zeitpunkt, an dem er oben angekommen ist. In seinem selbstvollen Antrieb sieht dieser sich bestätigt und zeigt sein wenig empathisches, reales Gesicht in Form von "Realpolitik".

    Das entgeht den Menschen nicht und ist von ihnen gewollt, denn diese Politiker werden gebraucht, um die antisozialen Anteile der Menschen auf die Politiker zu projizieren. Der Realpolitiker tut das, was der Bürger sich wünscht, aber nicht bereit ist, selbst zu verwirklichen. Nur wenige stehen dazu, die meisten belassen es beim schimpfen, um den empathischen Anschein zu wahren; Eine Abspaltung von charakterlichen Fehlbildungen an der Wahlurne. Wäre dem nicht so, würden die Menge an Schimpftiraden ein anderes Wahlergebnis zur Folge haben. Das durchschnittl. Volk hat in jedem Fall seine Führungspolitiker verdient, spätestens bei deren Wiederwahl. Narzissten können sehr interessante, "weltoffene", sympathische und gebildete Menschen sein, wenn man diese nicht direkt an der Haut zu spüren bekommt. Dann wird ihre ganze Widersprüchlichkeit, Bindungsmanipulation und innerliche Zerrissenheit deutlich.

    Einem palästin. Mädchen wird hinsichtlich seiner Hoffnung auf Bleiberecht Absage erteilt und gleichzeitig Trost gespendet. Die Regung Merkels war echt und kennzeichnet sie als Narzisstin. Strategisch hätte sich die Situation vermeiden lassen, doch der Anspruch, empathisch wahrgenommen zu werden, ließ sie in diese Falle tappen; Der Wahrheit zum Glück.

  • Georg Seeßlens vortrefflicher Beitrag liefert auch einen interessanten Erklärungsversuch für jenes Phänomen, das manche bereits im unzulässigen Vergleich als "Gleichschaltung der Medien" bezeichnen. Denn wie kommt es eigentlich, daß man in allen etablierten Medien - zu denen leider auch die TAZ immer häufiger zu gehören scheint! - nur auf Abwandlungen des bereits regierungsamtlich Verlauteten trifft, mit Kritik an Nuancen, niemals jedoch am Grundsätzlichen? Daß - beispielsweise - auch "linke" Medien immer wieder betonen, nicht "gegen den Kapitalismus", sondern bloß gegen seine "Auswüchse" zu sein? Was ist das überhaupt für eine jämmerliche Verzagtheit? Auch die gescheitesten Artikel von Frau Hermann, die ich an dieser Zeitung schätze - sind leider jenem "Realismus" verfallen, den Herr Seeßlen beschreibt.

    • @Albrecht Pohlmann:

      Vernünftige Leute kommen halt manchmal zu vernünftigen Ergebnissen. Ein wenig seltener schaffen das auch unvernünftige Leute.

       

      Es ist nicht so, dass der Kapitalismus "alternativlos" sei. Nur fällt es schwer, irgendeiner der Alternativen zu vertrauen. Sie sind alle bislang an der Realität gescheitert. Natürlich können Sie es als "verzagt" geißeln, wenn sich jemand von der Realität aus der ideologischen Bahn werfen lässt, aber mal im Ernst: Wem soll denn das konsequente Ignorieren der Realität, wann immer sie der Ideologie widerspricht, am Ende helfen?

  • Schon wieder ein geschraubter Metadiskurs.

    Wenn's nicht so läuft wie gewünscht, dann fehlt es der Politik an Visionen und am Willen zur Gestaltung. Bei anderen Themen, aktuell zb. Migrationsdruck, muss man die Dinge hinnehmen, weil man die Völkerwanderung sowieso nicht aufhalten kann.

     

    Ja, so einfach kann man das ausdrücken.

  • Der Realismus bildete noch nie die Wirklichkeit ab, sondern nur das, was man bereit war, aus der Wirklichkeit anzuerkennen. Man könnte auch sagen, Realismus ist das Konzept, die Wirklichkeit als Rückstand im Sieb der optimalen Verdrängung zu gewinnen.

  • Ein sehr treffender Kommentar von Georg Seesslen. Wir werden schon lange von den Realisten beherrscht, für die Prinzipien sowie der Glaube an eine bessere Welt unvorstellbar sind. Begriffe wie Visionen oder Utopien sind ihnen völlig fremd, denn sie besitzen weder Phantasie, Träume noch Vorstellungskraft. In diesem Zusammenhang fällt mir ein anderer "großer" Realist ein, Helmut Schmidt, der einmal gesagt hat: "Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen." Dem halte ich entgegen: "Wer keine Visionen hat, sollte kein Politiker werden!"

     

    Wir leben in einer Welt derDiktatur der Normalität und der langweiligen Normopathen und Anpasser. Faule Kompromisse sind das gängigste Handwerkszeug. Mut, Charakter und Rückgrat, die das wirklich Realistische und Machbare zum Vorteil von Mensch, Gesellschaft und Natur fördern könnten, haben abgedankt.

     

    An dieser Stelle fällt mir noch ein Zitat vom großen Sozialpsychologen Erich Fromm ein:

     

    "… Was so sehr über den Geisteszustand der Mitglieder einer Gesellschaft täuscht, ist die Übereinstimmung in ihren Auffassungen und Ideen. Man nimmt

    naiv an, die Tatsache, daß die Mehrzahl der Menschen ihre Ideen oder Gefühle teilt, bedeute schon die Richtigkeit derselben. Nichts ist weiter von der Wahrheit entfernt. Übereinstimmung als solche ist keine Bürgschaft für Vernunft oder für geistige Gesundheit..."

     

    Besser kann man es nicht ausdrücken. Die unbelehrbaren Realisten, die Kreativlosen, die auf Rückschritt programmierten Normalos und die Apologeten der alternativlosen radikalen Marktwirtschaft stellen die Totengräber der Gesellschaft dar - und das weltweit!

    • @Peter A. Weber:

      So so Visionen, ja.

       

      Wie wäre es denn mit der Vision der unbeschränkten Energie durch Kernkraft?

       

      In den 50ern bis weit in die 90er hinein gab es genügend Menschen, die daran glaubten.

       

      Oder der Vision der perfekten Bahn durch Privatisierung?

       

      Mir klingeln die Sätze heute noch in den Ohren.

       

      Oder der Vision einer vollständig Motorisierten Welt?

       

      Schaut euch mal die Werbung aus den 50ern an.

       

      Visionen und Utopien. Als begeisterter Sci-Fi Fan habe ich immer etwas dafür übrig, aber auf die Realität kann man so etwas eben nicht anwenden.

       

      Mal sehen was aus der Vision der unbegrenzten Energie durch die Kernfusion wird.

  • 2G
    24636 (Profil gelöscht)

    Bitte mal ein ausführliches Streitgespräch zwischen Rudolf Walther (oder Raul Zelik) und Georg Seesslen über Deutschland 2015 - Diskurs, Symbolpolitiken, Blödmaschinerie und Optionen für eine befreiungstheoretisch fundierte Linke. Dass da mal Fetzen fliegen und nicht gar so schratig begrifflicher Firlefanz resultiert. Herr Seesslen ist mir dazu zu lieb und geschätzt, als dass man ihn nur sich selbst überlassen müsste. Lasst uns streiten!

  • Wenn Sie Mutti zum Real-Dispositiv eines Machiavellismus machen und den in eine Versagerrolle vor einem kaum beschriebenen Humanismus zwingen, ist das zwar eine unerwartete “Sonntagsrede”. Aber, wo ist “Vati” ? Was könnte er gegen die “Lüge” tun? Lenin wußte die - humanistische - Antwort auch nicht. Was tun die - mehr oder weniger - jungfräulichen Töchter und Jungmänner auf den Barrikaden? Kommt von der entblößten Piratin mit dem “Harris do it again” und dem der angezogenen Antifas mit “Deutschland verrecke” das Rettende? Kaum!

    Vielleicht dann doch eher von “Mutti” am Windrad gegen Reststrahlung, Klimakatastrophe ...? Und sie nimmt - wenigstens - die symbolischen Passagiere eines Flüchtlingsschiffes auf (es müssen dabei nicht mehr die des filmisch berühmten jüdischen Flüchtlingsschiffes sein). Die Hoffnung auf größere Hilfe vor Ort, hier und noch mehr dort, bleibt. Wie schwer humanistischer Realismus ist, daran läßt ein anderer aktueller Taz-Artikel teilhaben, wo der Autor bei der Kindererziehung auf der Warnow und im Zelt nicht weiter weiß und ihm das Notwendige zur Wahnwelt des Unvermittelbaren wird (Bernhard Pötter).

  • Die realistischste Wortumschiffung der narzisstischen Störung.

    • @lions:

      taz schreibt:

      "... Es gibt nichts Trostärmeres, als von einer solchen Mutter berührt zu werden. ..."

      Realismus kann Leute zur Verzweiflung treiben.

      Frau Merkels Realismus genauso.

    • @lions:

      Mit der Umschreibung 'narzistische Störung' wird (nach meinem Dafürhalten) der Egoismus und werden das Worthülsen-Aufsagen von Politiker/innen und (neudeutsch) Manager/innen entschuldigt und die Genannten werden somit zu Opfern stilisiert, die wiedermal nichts für ihr Tun vorgeben zu können.

      • @Krawatte:

        Egoismus ( ferner antisoziale PS) ist ebenso pathologisch wie Narzissmus. Also was wollten Sie jetzt nochmal mitteilen ?