Debatte Polens Blick auf Griechenland: Kein Mitleid mit Athen

Den meisten Polen fehlt es an Empathie für die Hellenen. Sie haben die eigene Schocktherapie von 1990 in Erinnerung.

Ein polnischer Fußballfan befestigt eine Fahne an seinem Fenster.

„Das wirkliche Leben ist nicht ganz so rosig.“ Foto: dpa

Ein Vierteljahrhundert – das ist wirklich nicht viel. Nach dem Fall des Kommunismus 1989 bissen die Polen die Zähne zusammen und stimmten tiefgreifenden Reformen zu. Sie wollten so rasch wie möglich ein gleichberechtigtes Mitglied der westlichen Gemeinschaft werden. Die Reformen bedeuteten für Millionen meiner Landsleute Verarmung, Verlust der bis dahin garantierten Arbeit in einem staatlichen Betrieb, eine nicht enden wollende Spirale an vergeblicher Arbeitssuche und enttäuschter Hoffnung. Ganze Landesteile im Nordosten Polens sanken zu Armutsregionen herab. Zum Teil ist das bis heute zu sehen.

Polen hat allerdings seit Beginn der Reformen einen gigantischen Sprung nach vorn getan. Das Pro-Kopf-Einkommen stieg von 1.550 Dollar im Jahr 1990 auf rund 13.600 Dollar heute. Wir wurden Mitglied der Nato und – was von den Polen sehr hoch geschätzt wird – der Europäischen Union. Nach wie vor gehören wir zu den größten EU-Enthusiasten Europas. Im Mai 2015 bewerteten ganze 81 Prozent meiner Landsleute die Mitgliedschaft in der EU positiv.

Das Leben ist nicht rosig

So viel zur Statistik. Das wirkliche Leben ist nicht ganz so rosig. Denn auch wenn statistisch gesehen das durchschnittliche Einkommen der Polen heute bei rund 1.000 Euro brutto liegt, so verdienen doch die meisten „Durchschnittlichen“ nicht viel mehr als rund 520 Euro brutto. Eine durchschnittliche Rente liegt bei rund 500 Euro. Darüber hinaus gibt es ein großes Problem mit den sogenannten „Müllverträgen“: Arbeitnehmer genießen keinen Schutz wie bei normalen Arbeitsverträgen üblich.

Sie können von einem Tag auf den anderen entlassen werden, erhalten keine Abfindung und haben weder eine Kranken- noch eine Rentenversicherung (außer sie zahlen sie selbst). Sie unterliegen nicht dem normalen Arbeitsrecht, erhalten wegen der unsicheren Einkommenssituation keinen Kredit bei einer Bank usw. Schätzungen zufolge arbeitet rund jeder sechste Pole auf der Basis eines solchen „Müllvertrags“. Das sind rund 1,6 Millionen Bürger, die meisten davon junge Menschen.

Ich schreibe das alles, um den Kontext zu erläutern, der maßgeblich die polnische Einschätzung des Geschehens in Griechenland bestimmt. Die Mehrheit der Polen empfindet keine große Empathie für die Probleme eines durchschnittlichen Einwohners von Athen oder Saloniki, da dort sowohl das Einkommen wie auch der Lebensstandard nach wie vor höher sind als in unserem Land.

Die meisten Polen sind schlicht der Ansicht, dass am Ende jeder für seine Fehler bezahlen muss. Zudem scheint die Situation in Griechenland trotz der jahrelangen Wirtschaftskrise keineswegs schlechter zu sein als in unserem Land. So zumindest wirkt es aus der Perspektive eines Polen.

Krieg im Nachbarland

Auch das Bild der Sommer-Sonne-Ferienidylle, das viele Polen vom Peloponnes oder von Kreta mitbringen (immerhin verbringen rund eine halbe Million Polen ihren Urlaub jedes Jahr auf den griechischen Inseln), ist ein völlig anderes als die Bilder aus Athen, die im Fernsehen gezeigt werden. In der Provinz gibt es keine Manifestationen. Niemand verbrennt EU- oder Deutschland-Flaggen. In den Hotels gibt es Frühstück und Abendessen wie letztes Jahr. Und auch die Sonne scheint wie immer.

Angesichts der Krise in der Ukraine verblassen die Probleme, mit denen sich die Griechen herumschlagen müssen. Denn hier, direkt hinter unserer östlichen Grenze, findet ein echter Krieg statt. Für die meisten Polen ist die Perspektive eines sich weiter ausdehnenden russisch-ukrainischen Konflikts erschreckender als ein Bankrott Griechenlands und der damit verbundenen Probleme für die Europäische Union.

Dies umso mehr, als an der Weichsel niemand an ein Auseinanderfallen der EU glaubt. Im schlimmsten Fall müsste die EU eben ohne das Mitglied Griechenland auskommen. Die prorussischen Neigungen, wie sie die Regierung von Alexis Tsipras immer wieder zu erkennen gibt, lassen die Griechen in den Augen der Polen auch nicht unbedingt sympathischer erscheinen.

Es gibt jedoch einen Aspekt in der griechischen Krise, der auch in Polen auf großes Interesse stößt. Das ist die Frage nach der Aufgabe der Landeswährung zugunsten des Euro. Die Probleme Griechenlands sowie die in Polen verbreitete Überzeugung, dass die Übernahme des Euro zu einer dramatischen Preissteigerung führen wird, führten im Mai 2015 dazu, dass rund 70 Prozent der Befragten die Übernahme des Euro ablehnten. Dieser neue Negativ-Rekord hat auch mit der Politik der wichtigsten Oppositionspartei in Polen, der „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), zu tun, die immer wieder die Angst vor dem Euro und dem zu erwartenden Preisanstieg schürt.

Wohl oder übel in die Eurozone

Charakteristisch ist im Übrigen, dass die negative Einstellung zum Euro nur ein einziges Mal – im Jahr 2009 – unter 50 Prozent sank. Damals war eine minimale Mehrheit der Polen bereit, den Złoty durch die europäische Gemeinschaftswährung zu ersetzen. Danach vertiefte sich jedoch nicht nur die weltweite Wirtschaftskrise, vielmehr mussten Griechenland, Irland, Spanien und Portugal – alles Euro-Länder in der EU – ganz besonders stark gegen den wirtschaftlichen Abstieg ankämpfen.

Zweifelsohne steht der Eurozone wie auch der ganzen EU eine ernsthafte Diskussion über ihre Zukunft bevor, auch wenn Griechenland nicht zur Drachme zurückkehren und Athen mit der Troika noch einig werden sollte.

An dieses Diskussion sollte sich Warschau beteiligen, denn wir werden wohl oder übel eines Tages Mitglied der Eurozone werden. Wie das Beispiel Litauen zeigt, muss das aber keineswegs mit einer erneuten Schocktherapie einhergehen. Selbst die PiS gibt inzwischen zu, dass wir den Euro irgendwann übernehmen müssen, aber erst dann, wenn die Polen „anständig und auf europäischem Niveau verdienen“. Unklar ließ die Partei nur, ob „europäisches Niveau“ einen Wohlstand auf dem Niveau der Spanier, der Franzosen oder der Deutschen meint. Denn dass es nicht das Niveau Griechenlands sein sollte, das ist allen Polen klar.

Aus dem Polnischen Gabriele Lesser

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ist Historiker und Chef vom Dienst der polnischen Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“. Er ist Autor zahlreicher Beiträge über Russland, die Ukraine, die Europäische Union und die transatlantischen Beziehungen, auch in internationalen Medien. Imielski ist Absolvent der Schlesischen Universität in Kattowitz.

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