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Debatte Olympische Spiele in BrasilienGlitzernder Scherbenhaufen

Andreas Behn
Kommentar von Andreas Behn

Wirtschaftlicher Niedergang, politische Spaltung, rechter Rollback: Ist Brasiliens Malaise eine Folge der Fußball-WM-Niederlage von 2014?

Verzichtbar: funkelnde Sportevents aus Kommerzinteresse Foto: dpa

E in unscheinbarer Politiker namens Michel Temer wird die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro eröffnen. Er ist Interimspräsident Brasiliens, hat Beliebtheitswerte um die zehn Prozent und führt eine reine Männerregierung, die innerhalb von zwei Monaten bereits drei Minister aufgrund von Korruptionsvorwürfen verlor. Die wegen angeblicher Haushaltstricks und Defizitverschleierung suspendierte Präsidentin Dilma Rousseff bezeichnet Temer als Verräter und Putschisten. Eine delikate Situation für die über 30 erwarteten Staatschefs, denn wer sich an Temers Seite zeigt, segnet damit auch einen Machtwechsel ab, der höchst umstritten ist und kaum demokratischen Regeln folgte.

Rousseff schlug Temers Einladung aus, an der Zeremonie teilzunehmen. Auch ihr Vorgänger Lula da Silva, als dessen Verdienst der Zuschlag für die Fußball-WM und die Olympischen Spiele in Brasilien gilt, will nicht mitfeiern. Seine Vision war damals eine ganz andere: Olympia wird die Krönung der zweiten Amtszeit seiner Nachfolgerin werden, Symbol für den Aufstieg Brasiliens zu einem Global Player und für den Siegeszug einer neuen, sozial ausgerichteten Wirtschaftspolitik.

Stattdessen steht Brasilien jetzt vor einem Scherbenhaufen. Wirtschaftlich geht es steil bergab, politisch ist das Land in zwei verfeindete Lager gespalten. Das eilige Rollback der jetzigen Machthaber nimmt die mühsam errungenen Sozialstandards und Minderheitenrechte aufs Korn. Durch die Institutionen spült eine Säuberungswelle. Die stramm rechte Temer-Allianz will alle Spuren von 13 Jahren halblinker Regierung tilgen und auch im regionalen Kontext wieder die Dominanz einer US-freundlichen Politik festschreiben.

Wie konnte es so weit kommen, was ist schiefgelaufen beim lange Zeit so erfolgreichen Modell Lula? Vor allem in Deutschland wird gern die These bemüht, dass alles Unheil 2014 im Halbfinale der Fußball-Weltmeisterschaft begann – mit der blamablen 1:7- Niederlage Brasiliens gegen die DFB-Elf im eigenen Land. Inflation, Arbeitslosigkeit, politische Wirren und leere Kassen bis hin zum Einsturz eines Panoramafahrradwegs für Olympia und dem heimtückischen Zika-Virus – alles Folgen eines angeblichen nationalen Traumas im Lieblingssport, genau wie 1950, als Brasilien im Maracanã-Stadion gegen Uruguay verlor und den sicher geglaubten WM-Titel verpasste.

Doch anders als damals, als eine Niederlage und das fassungslose Schweigen von 200.000 Fans wirklich einen Schock auslöste, der bis heute die brasilianische Kultur prägt, war das 1:7 nichts weiter als eine Fußballschande. Schon lange hat der Ballsport in Brasilien an Bedeutung eingebüßt, Kommerzialisierung und Korruption zeigen ihre Wirkung. Meist wird vor halb leeren Rängen gespielt und die unglückliche Nationalmannschaft von 2014 dient den Brasilianern nicht mehr als Identifikationsfläche.

Nicht richtig bei der Sache

Schon ein Jahr vor der Fußball-WM wurde deutlich, dass Brasilien zwar den guten Gastgeber spielen würde, aber eigentlich nicht richtig bei der Sache war. Zum Confederations-Cup kam es völlig unerwartet zu Massendemonstrationen, die das Land wochenlang in Ausnahmezustand versetzten. Bis heute ist der Aufstand von 2013 nicht hinreichend erklärt. Aber vielen gilt er als Ausgangspunkt eines politischen Umbruchs und damit auch des wahrscheinlich endgültigen Machtwechsels bei der Senatsabstimmung gleich nach Olympia.

Anfangs waren die Demonstrationen ein Aufstand für mehr soziale Gerechtigkeit und bessere öffentliche Dienstleistungen. Forderungen nach einem Nulltarif bei Bussen und Bahnen sowie die deutliche Kritik an Geldverschwendung und milliardenschweren Investitionen für unnötige Stadionbauten waren auch ein Appell an die Regierung der Arbeiterpartei PT, ihren ursprünglichen Zielen treu zu bleiben und eine Umverteilung des Reichtums nicht aus den Augen zu verlieren.

Doch von Beginn an wirkten unter den Hunderttausenden auch andere Kräfte. Politische Parteien und ihre Mitglieder wurden ausgepfiffen, teilweise sogar mit Gewalt aus den Demos gedrängt. Mit der Zeit tauchten auch immer mehr Brasilienfahnen auf, und die eher unpolitische Forderung nach einem Ende der Korruption, ohne Verantwortliche zu nennen, wurde immer sichtbarer.

Eindeutiger Wendepunkt war, als die Mainstreammedien aufhörten, die Proteste kleinzureden. Plötzlich wurden die Demonstranten zu neuen demokratischen Protagonisten hochgejubelt – und ganz subtil auch die Themen der Proteste beeinflusst. Das Kalkül war simpel: Jede Protestbewegung richtet sich auch gegen die jeweilige Regierung, also gegen die Arbeiterpartei, die die konservative Opposition, Unternehmerkreise und die durchweg rechten Privatmedien seit Jahren loswerden wollten.

Den Bankrott herbeigeredet

Trotz gellender Pfeifkonzerte gegen Rousseff in den Stadien und trotz des 1:7 wurde die erste Frau im höchsten Staatsamt im Oktober 2014 wiedergewählt. Der knappe Vorsprung der Linken war für die Rechte das Signal, zum Umsturz zu blasen. Die Unterlegenen fochten die Wahl an, klagten gegen das Wahlsystem, redeten den ökonomischen Bankrott des Landes herbei, schoben die übliche, aber erstmals juristisch ermittelte Korruption ausschließlich der Regierung in die Schuhe und machten Rousseff für alle Probleme des Landes verantwortlich.

Der Versuch, eine Regierung ohne Wahlen aus dem Amt zu drängen, wurde durch erneute Massendemos legitimiert, über die die Presse intensiver berichtete als über sämtliche Fußballspiele. Gefordert wurde nur noch der Rücktritt der Regierung – vor allem „wegen Korruption“.

Dass die jetzigen Machthaber, und viele Parlamentarier, die für die Amtsenthebung stimmten, nach aktuellem Ermittlungsstand viel korrupter sind als Rousseff und ihre Minister, interessiert die Demonstranten von damals nicht. Temer gibt sich als legitimer Präsident, während die PT und soziale Bewegungen Olympia nutzen werden, um den Staatsstreich vor aller Welt anzuklagen. Lula hätte vor zehn Jahren gut daran getan, auf glitzernde Sportevents zu verzichten, die von urbanen Bewegungen ohnehin nur als Menschenrechtsverletzung aus Kommerzinteresse kritisiert werden.

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Andreas Behn
Auslandskorrespondent Südamerika
Journalist und Soziologe, lebt seit neun Jahren in Rio de Janeiro und berichtet für Zeitungen, Agenturen und Radios aus der Region. Arbeitsschwerpunkt sind interkulturelle Medienprojekte wie der Nachrichtenpool Lateinamerika (Mexiko/Berlin) und Pulsar, die Presseagentur des Weltverbands Freier Radios (Amarc) in Lateinamerika.
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4 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Diese ganzen MONSTERSPIELEVENTS (Fussball-WM, Olympia, etc.) sind total aufgeblasen (ökonomisch) und überfordern JEDES (!) Nichtindustrieland, an welches diese Spiele in den letzten Jahren vergeben wurden.

    Siehe Südafrika, Qatar, Russland, Brasilien........

    Der Vorgang ist immer derselbe. Die - selbsternannten - "Eliten" reiben sich die Hände, die Armen verzweifeln.

    Die Eliten stecken mit der Wirtschaftsmafia unter einer Decke. Mit Bachialgewalt werden gigantische Baumaßnahmen durchgezogen, auf Kosten der Armen, die nicht selten verjagt werden und Haus und Hof verlieren.

    Hochziehen müssen diese Bauten die ARMEN, wer sonst. Sie müssen schuften bis sie - fast oder ganz - tot umfallen. Dann werden sie noch um ihren "Lohn" (bzw. das was man für Lohn hält) geprellt. Die Millionen und Abermillionen landen dagegen in den KORRUPTEN Taschen der "Eliten", die selten eine so gute Gelegenheit erhalten, mit vollen Händen die STAATSKASSE in mafiöser Manier zu plündern. Nach den Spielen interessiert sich kein Mensch mehr für die Bauten, Straßen, Parks, etc......im Gegenteil: Alles rottet trostlos vor sich hin.

    DAS ist SPORT TODAY. Das ganze wird begünstigt durch korrupte Funktionärskasten bei FIFA, IOC, etc......

    In Russland z.B.(wo die nächste Soccer-WM stattfindet) haben sich Arbeiter aus Protest gegen die Lohnprellerei den Mund zugenäht. Wenn sie protestieren werden sie geschlagen und eingesperrt in irgendwelchen Lagern. Siehe Qatar......wo bettelarme Asiaten in wahren DRECKSLÖCHERN gefangen gehalten werden (PASS wurde ihnen abgenommen!).

    Es ist EKELHAFT!!! So einen "Sport" braucht KEIN MENSCH. Jetzt haben wir die DOPINGSPIELE......usw.

    Da hilft nur eines: AUSSCHALTEN!

  • 2G
    24636 (Profil gelöscht)

    Interessant ist das ständig in allen Artikeln deutscher Medienhäuser wiederholte Trotzdem. Trotz der Korruption, trotz Doping, trotz skandlöser Rahmenumstände sollen wir unbedingt Spaß haben und uns an den Leistungen der Athleten freuen. Ist doch egal, wie sie zustandekommen. Ist doch egal, was um die Stadien los ist. Ist doch egal, dass die Menschen im Mittelmeer ertrinken. Da unsere Medien jetzt auf Dauerfeuer aus Rio schalten, muss das natürlich alles egal sein. Das Panem et circenses-Motiv hat sich aber längst in den Köpfen festgesetzt und wuchert dort vor sich hin. Auch eines der Kräfte, warum heute Glaubwürdigkeit und Verantwortungspolitiken stetig den Symbolpolitiken erliegen. Es ist wie ein Krebs, der sich im Stillen durch die Strukturen und Organe frisst, bis diese irgendwann mal, ach so plötzlich, den Geist aufgeben.

    • @24636 (Profil gelöscht):

      Auf jede einzelne Zigarettenpackung soll demnächst ein Ekel-Foto von einem Raucherbein oder von Lungenkrebs gedruckt werden. Ich frage mich, wann endlich auf Wahl- oder Werbeplaketen für Olympia wenigstens zu lesen steht: Macht gefährdet Leben und Gesundheit. Vermutlich wird es so weit niemals kommen.

    • 3G
      35440 (Profil gelöscht)
      @24636 (Profil gelöscht):

      "Das hat doch alles nichts mit dem Sport zu tun".

       

      So der Tenor der Verlogenen.

       

      Wenn ein Irrer sich mit Berufung auf den Islam ein Dutzend Menschen abknallt, dann sind alle Medien - zurecht - schnell dabei, eine Erklärung zu verlangen, wie das kommen konnte.

       

      Doch in Sachen Sport kann der Journalist das dann trennen.

       

      Meine Vermutung ist, er will kein schlechtes Gewissen haben und hat keine Lust sich mit der Realität auseinanderzusetzen.

       

      In dem Sinne würde ich das als "Ich will trotzdem Spaß haben" interpretieren.