Debatte Ökonomie in Griechenland: Notgedrungene Solidarität

Die griechische Krise fördert das Entstehen von selbst verwalteten Räume und Inseln ohne Geldwirtschaft. Aber das ist nicht genug.

Ein Mann verkauft frischen Fisch an einem Strand bei Athen

Der kleine Handel funktioniert zwar – alternative Wirtschaftsformen kann er jedoch nicht ersetzen Foto: ap

Die Eurokrise hat Griechenland fast ein Viertel seiner Wirtschaftsleistung gekostet – die größte erfasste Schrumpfung eines Industrielandes in Friedenszeiten. Das hat vor Kurzem das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung berechnet.

Wenn man zynisch wäre, könnte man meinen, dass dies ein Beispiel für Degrowth oder Postwachstum in Europa ist. Ist es aber nicht: Leitspruch der Bewegung ist „Degrowth per Design, nicht per Desaster“. Die Grundidee von Degrowth ist eine solidarische, demokratische und ökologische Wirtschaft mit geringem Ressourcenverbrauch – nicht Armut und Rezession durch ein Spardiktat und ökologische Ignoranz, wie die Menschen es gerade in Griechenland erleben.

Die Folgen der vermeintlichen Lösungsansätze haben viele Menschen in Griechenland ins Elend gestürzt und Europa an den Rand einer humanitären Katastrophe gebracht. Viele reiche Griech*innen haben es – mithilfe des europäischen Auslands – dagegen geschafft, einen Großteil ihres Vermögens außer Landes zu bringen.

Damit versuchen sie sich vor einem möglichen kompletten Zusammenbruch der Wirtschaft zu schützen, treiben diesen aber gleichzeitig voran. Insgesamt verstärken sich somit Ungleichheit, Verteilungskonflikte und Ausgrenzung.

Neue Ideen entstehen

Gleichzeitig erzwingt die Krise auch das Suchen nach neuen Möglichkeiten des Zusammenlebens und -arbeitens und vergrößert Räume, wo diese erprobt werden. Projekte, die seit Jahren von anarchistischen, antifaschistischen und solidarischen Gruppen betrieben werden, erfahren nun großen Zustrom, neue Ideen entstehen. Es gibt selbst verwaltete Räume und Nachbarschaftsprojekte, solidarische Kliniken, Inseln ohne Geldwirtschaft, Umsonstläden, Tauschwirtschaft, Kooperativen, Werkstätten und Selbsthilfeprojekte. Basisdemokratische Modelle mit Konsensentscheidungen und Arbeiten im Kollektiv werden bekannter und geläufiger. Einige Griechen finden sich also notgedrungen zusammen, um eine solidarische und friedliche Gesellschaft von unten aufzubauen.

Doch die Bedingungen hierfür sind denkbar schwierig – der größte Teil der Gesellschaft erlebt die Schrumpfung wohl als Desaster, nicht als kreative Schöpfung. Denn trotz dieser Lichtblicke bleibt die Bilanz der bisherigen Austeritätspolitik verheerend. Die Kindersterblichkeit ist allein zwischen 2008 und 2010 um 43 Prozent gestiegen. Die Erwerbslosigkeit liegt bei 25, die Jugendarbeitslosigkeit gar bei 50 Prozent. Ganze Familien ernähren sich von der bescheidenen Rente der Großeltern.

Unter dem Motto „Wir können auch anders” findet vom 5. bis 13. September 2015 in Berlin eine Wandelwoche mit anschließendem internationalen Kongress zur Solidarischen Ökonomie statt, die „Solikon 2015“.

In bewährter taz-Tradition kommt es aus diesem Anlass zu einer freundlichen Übernahme der Redaktion durch die beteiligten Gruppen. Sie werden die Wochenendausgabe vom 5./6. September 2015 produzieren. Ihr gemeinsames Thema: Die große Transformation. Dieser Beitrag ist Teil der 28-seitigen Sonderausgabe.

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Laut einem Bericht des griechischen Parlaments leben fast 6,5 Millionen Griech*innen in Armut, das sind 58 Prozent der Bevölkerung. Ein Drittel hat keine Krankenversicherung. Der Protest gegen die Missstände gehört zum Alltag – genauso wie seine gewalttätige Einschränkung durch die Polizei.

Ungelöste Verteilungskonflikte

Weitere „Sparprogramme“ ohne Schuldenschnitt werden die Situation verschärfen. Das klassische Gegenstück, eine auf Wachstum und Profit ausgerichtete Investitionspolitik, kann es aber auch nicht sein. Ungelöst bleiben hierbei die Verteilungskonflikte und die ökologische Katastrophe, auf die wir global zusteuern. Wir brauchen eine alternative Lösung, welche die ökosozialen Probleme und deren Ursachen gemeinsam angeht.

Dies bedeutet Wandel auf mehreren Ebenen: auf der persönlichen, der selbst organisierten und der politisch-institutionellen. Die Menschen in Griechenland benötigen unsere Solidarität. Wir sollten uns mit den weniger Privilegierten verbünden und gemeinsam nach Alternativen suchen. Das führt direkt zur nächsten Ebene: der Selbstorganisation. Selbst verwaltete Projekte, die in Hellas eine lebenswichtige Basis für viele bieten, brauchen unsere Unterstützung. Es hilft aber auch, solche Projekte hierzulande aufzubauen und zu stärken. Zahlreiche Initiativen haben schon damit begonnen, wie die Degrowth-Konferenz in Leipzig im September 2014 aufgezeigt hat.

Auf der politisch-institutionalisierten Ebene gilt es, eine gesamteuropäische Lösung anzustreben. Das bedeutet, die Gründe der Krise auf europäischer Ebene – und vor allem auch in Deutschland – zu suchen und eine gemeinsame solidarische Wirtschaftspolitik zu entwickeln. Zuerst muss Griechenlands Souveränität anerkannt werden: Das Land darf nicht zu einseitigen Maßnahmen gezwungen werden. Ein Schuldenschnitt oder eine Verlängerung der Kreditlaufzeiten ist notwendig, um dem Land die Möglichkeit zu selbst gewählten Reformen zu geben.

Exportweltmeister versus Handelsdefizit

Außerdem müssen wir erkennen, dass alle europäischen Länder zur desaströsen Steuerpolitik und den Handelsungleichgewichten beitragen. Das Gegenstück zur deutschen Exportweltmeisterschaft und prekärer „Vollbeschäftigung“ hierzulande sind Handelsdefizite in anderen Ländern, Prekarisierung und Arbeitslosigkeit. Die Schulden der einen sind immer die Forderungen und Vermögen der anderen.

Daher muss die Währungsunion um die Bereiche Arbeitsmarkt- und Steuerpolitik erweitert werden: Löhne und Arbeitszeiten müssen gleichmäßiger verteilt werden. Essenziell wäre auch eine sozial-ökologische Steuerreform in ganz Europa. Das hieße: Steuern auf Arbeit und Grundversorgungsmittel senken, auf Umwelt und Kapital anheben, umweltschädliche Subventionen abschaffen.

Außerdem müssen demokratische Entscheidungsstrukturen in der EU gestärkt werden. Anstatt immer mehr Macht nach oben zu verteilen und möglichst wenige Menschen an der Spitze Europas über das Schicksal ganzer Gesellschaften entscheiden zu lassen, sollten wir das in der EU verankerte Prinzip der Subsidiarität stärken und Entscheidungen möglichst nah an den betroffenen Menschen fällen.

Für eine langfristige und nachhaltige Krisenlösung müssen wir uns trauen, ein anderes Europa zu entwerfen. Die Menschen in Griechenland brauchen die Unterstützung der europäischen Linken. Denn bei der aktuellen Krisenpolitik handelt es sich um einen Angriff auf soziale Errungenschaften, Demokratie und emanzipatorische Politik, der ganz Europa betrifft. Wir können die Chance nutzen, um ein solidarisches, ökologisches und friedliches Europa zu schaffen.

Die Autorin arbeitet beim Konzeptwerk Neue Ökonomie.

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