Debatte Occupy: Versuchte Spontaneität
Gemischte Bilanzen ein Jahr nach den Protesten vom Zuccotti-Park: Andere Bewegungen wurden angestoßen, aber keine Bündnisse eingegangen.
E inen Steinwurf von Wall Street entfernt besetzten Menschen am 17. September 2011 den New Yorker Zuccotti-Park: „Occupy Wall Street“ wurde zu ihrer Losung – und dann zur Bewegung.
Obwohl sie politisch anfangs eher diffus war, bildete sich bald eine von den meisten Protestierenden geteilte Kritik heraus: In der autoritären und undemokratischen Krisenpolitik bleiben die wirtschaftlich Mächtigen am Ruder, sie machen den Staat zu ihrem Verbündeten. Gleichzeitig verlieren viele Menschen Arbeit und Wohnraum und damit Lebenschancen.
Die Proteste wurden durch den globalen politischen Rückenwind der ersten Jahreshälfte ermöglicht. Die Selbstverbrennung von Mohammed Bouazizi im Dezember 2010 in Tunesien wirkte wie ein Katalysator für Massenproteste gegen autoritäre Regime in Nordafrika. Ab Mitte Mai 2011 folgten Proteste in Spanien, auch in anderen europäischen Ländern gab es Aktionen. In den USA verbreitete sich Occupy Wall Street anschließend in über einhundert Städten.
ist Professor für Internationale Politik an der Universität Wien und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac Deutschland. Jüngste Veröffentlichung: „ABC der Alternativen“ (als Mitherausgeber, Hamburg 2012)
Keine klaren Forderungen
Den Protestierenden in den USA und Europa war gemeinsam, dass sie nicht damit begannen, klar umrissene Forderungen zu stellen. Es wurden zunächst Räume geschaffen, um sich überhaupt wieder über die eigenen Probleme und grundlegende Alternativen zu verständigen. Der gemeinsame Nenner war eher vage: Gerechtigkeit und Demokratie.
Die herrschende Politik wurde nicht zum Hauptadressaten. Diese Form der Spontaneität verwirrte die Medien enorm: Wo waren die Gesichter, wo die Forderungen? Es ging Occupy aber nicht um RepräsentantInnen, gute Argumente und Expertise wie bei vielen Nichtregierungsorganisationen oder Attac.
Die New York Times berichtete Mitte Oktober letzten Jahres, dass in einer Umfrage sieben von zehn New YorkerInnen die Einstellung der Protestierenden verstanden hätten. Immer mehr Organisationen bis hin zu relevanten Teilen der Demokratischen Partei bezogen sich positiv auf Occupy.
Den Protesten in Europa und den USA ist aber auch gemeinsam, dass sie nicht wirklich in der Lage waren, die politische und ökonomische Macht herauszufordern. In den mittel- und nordeuropäischen Ländern schlossen sich letztlich zu wenig Menschen an.
Auch in den USA verebbte Occupy. Dennoch ist wahrscheinlich, dass die Proteste im Zuccotti-Park eine ermunternde Wirkung auf andere Auseinandersetzungen in den USA hatten: auf die Streiks der HafenarbeiterInnen in Oakland oder die Belagerung des Parlaments von Wisconsin, um gegen die drastische Beschneidung von Gewerkschaftsrechten vorzugehen.
Der Hype in den Medien
In Deutschland entwickelte sich Occupy deutlich verhaltener. In den öffentlichen Äußerungen der Occupy-AktivistInnen kam eher Distanz zu Gewerkschaften und Attac zum Ausdruck. Die beginnende Bewegung machte sich unfähig für Bündnisse. Es gab einen kurzen und kräftigen Medien-Hype, der im Spätherbst vorbei war. Seit Frühjahr 2012 stand die Frage im Raum, ob die Proteste wiederbelebt würden. Das ist nicht geschehen.
Wie sind die Erfahrungen des vergangenen Jahres einzuschätzen? Wie können sie in einen größeren Kontext gestellt werden? Eine politisch fahrlässige Kritik hat Andrea Hanna Hünniger im Freitag vom 23. August unter dem Titel „Außer Gesten nichts gewesen“ veröffentlicht. Proteste, die etwas erreichen wollten, bedürften der Eskalation, glaubt sie.
In spezifischen Fällen greifen Bewegungen durchaus erfolgreich auf dieses Mittel zurück. In Deutschland sind die Anti-Atom-Proteste ein Beispiel. Doch Eskalation als einzig wirkungsvoll zu stilisieren, ist politisch gefährlich. Was hätte eine solche denn vor der Europäischen Zentralbank oder im Zuccotti-Park bewirkt? Eine 2-Minuten-Meldung im Fernsehen und ansonsten staatliche Repression. Schon die Platzbesetzung selbst, eine Art dauerhafte Sitzblockade, wurde ja von vielen als Provokation empfunden.
Analysen wie die von Hünniger tragen nicht dazu bei, komplexe Strategien gesellschaftlicher Transformation zu entwickeln. Diese müssten nämlich nicht nur Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit, worauf Protest zuallererst zielt, berücksichtigen. Es bedarf auch der Ermutigung kritischer Kräfte in Parteien, Verbänden, Gewerkschaften und Unternehmen. Notwendig sind politische Organisierung und so etwas wie politischer Führung.
Ein Problem für Attac
Mittelfristig muss der Alltagsverstand der Menschen erreicht und die Notwendigkeit gesellschaftlicher Veränderungen nicht nur sichtbar gemacht werden, sondern auch Handlungsoptionen aufgezeigt werden: solche, die auf eine veränderte Produktions- und Lebensweise zielen, Politik zur Sache der Menschen machen, sich kritisch gegen Eliten und ihre Macht wenden. Erst dann gewinnt der Occupy-Spruch „Wir sind die 99 Prozent“ an Eingriffsmacht in bestehende Verhältnisse.
Bewegungen wie Occupy können solche Prozesse anstoßen, Neues ausprobieren, bestehende Formen der Kritik hinterfragen. Die politische Intuition von Occupy sollte, bei allem Scheitern, nicht unterschätzt werden. Angesichts des kompletten Politikversagens in der aktuellen Krise muss Politik anders gedacht und gemacht werden. Die Bewegung war am Ende des dritten Krisenjahres der Versuch, nicht nur die Inhalte der herrschenden Politik zu kritisieren, sondern auch die Formen, wie Gesellschaft demokratisch gestaltet wird.
Attac und andere Akteure sitzen in gewisser Weise einem eher traditionellen Politikverständnis auf, demzufolge sich bei entsprechendem Druck und alternativen Argumenten die Politik schon bewegen werde. Um aber die Formen der Politik viel grundlegender zu verändern, bedarf es spontaner Aufbrüche als Ermunterung normaler und bislang machtloser Menschen, sich einzumischen. Hier bot die Occupy-Bewegung etwas Neues. Das verebbte zwar rasch, aber die Herausforderung, Politik anders zu denken und zu machen, bleibt bestehen.
Übrigens: Dass scheinbar alle Veränderungshoffnung auf Versuchen wie Occupy abgelagert wird, zeigt uns erst, wie starr die Verhältnisse sind und welche Probleme politischer Wirkungsmacht in der Krise Bewegungen wie Attac haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Abschluss G20-Gipfel in Brasilien
Der Westen hat nicht mehr so viel zu melden
CDU-Politiker Marco Wanderwitz
Schmerzhafter Abgang eines Standhaften