Debatte Nachdenken über Protestwähler: Haben wir zu wenig diskutiert?
Macht es nicht, liebe wütende Wähler! Ihr hattet die Aufmerksamkeit, eure Wut wurde gehört, kommt endlich wieder zur Vernunft.
Die Flüchtlinge sollen zurückkehren“ – gerade als ich die Kolumne beenden will, tickert diese Meldung durch die Nachrichten. Es seien bereits zu viele Flüchtlinge in Europa, hatte dieselbe Person zuvor gesagt. Die Person gehört nicht der AfD an, es handelt sich um den Dalai Lama. Dieser Glatzköpfige mit dem ewigen Lächeln, der die Wut in sich durch stundenlanges Meditieren aufgelöst hat. Warum redet so einer wie ein Wutbürger? Und das aus dem Exil. Man stelle sich vor, das käme von Alice Weidel oder Frauke Petry. Während sie in der Schweiz im Asyl leben.
Es ist meine letzte Kolumne vor der Bundestagswahl, und ich schmeiße noch einmal alles um, weil der Dalai Lama im italienischen Palermo Sätze wie diese von sich gibt. Haben wir die Wutbürger zu ernst genommen? Gut, sowohl der Papst als auch der Dalai Lama wollen unsere Seelen retten und keine Stimmen bei der Bundestagswahl holen, daher können sie sagen, was ihnen die Götter eingeben.
Solche Sätze von Weidel, Petry oder Gauland wären der nächste Aufschrei – und noch ein paar Stimmen mehr für die neue Partei. Klar ist so eine Kolumne absolut nicht in der Lage, auch nur einen Prozentpunkt am Wahlausgang zu drehen. Oder auch nur drei Prozentpunkte in Richtung Vernunft zu verschieben. Zumal keiner so genau weiß, wo die Vernunft auf dem Wahlzettel zu finden wäre.
Es ist, als hätten wir uns die ganzen letzten Monate nur abgelenkt. All die Empörungsfeuerwerke nach unzähligen Arenen und Talks waren kein politischer Diskurs. Das war Empörungshysterie, die nun die AfD auch bundesweit als Protestpartei etabliert hat. Viele denken: Die mit dem blauen Werbeplakat, die sind Protest. Nicht eine relevante neue Idee gab es. Und wir alle haben das unterstützt. Wenn man sich Parteimitglieder der Blauen auf ihren Social-Media-Kanälen ansieht, dann sieht man ganz normale, verkrampfte, relativ homogene Langweiler wie in anderen Parteien auch. Politik ist nun mal nicht die Fashion Week, und die Vivienne Westwoods dieser Welt suchen sich Arbeitszimmer ohne Aktenberge.
Die SPD hat noch vier Tage
Die Inhalte sind den meisten Protestwählern doch völlig egal. Die Blauen sind die Dagegen-Partei. Es ist schon brutal, sich klar zu machen, dass vor gar nicht allzu langer Zeit der Dagegen-Titel den Grünen gebührte. Und eine Auszeichnung war. So etwas wie Avantgarde. Jetzt verkaufen sich reaktionäre Kräfte ihren Wählern plötzlich als die neuen Revoluzzer. Und die Grünen sind nun – so wie Özdemir – der kleine schwäbische Cousin von Schäuble. Selbst Lindner ist irgendjemandes kleiner Cousin, nur bei ihm wissen wir nicht, wessen Cousin eigentlich. Der von Genscher eher nicht.
Best of Wahlkampf
Die SPD wollte mit dem Thema Gerechtigkeit in die Mitte der Gesellschaft vordringen und hat gemerkt, dass da nicht mehr viele sind. Sie hat noch vier Tage, um das Wort Gerechtigkeit vor der Bedeutungslosigkeit zu retten. Gerechtigkeit ist ein globales Wort, es endet nicht an deutschen Grenzen. Aber es beginnt dort, wo mein Leben sich gerechter anfühlt, weil das eines anderes ausgebeutet wird. Die Botschaft am Wahlabend darf nicht lauten: Mit Gerechtigkeit kannst du in Deutschland keine Wahlen gewinnen. Das schuldet man einem Land, das mit sozialer Marktwirtschaft der Welt lange Zeit exemplarisch vorgelebt hat, was Gerechtigkeit bedeuten kann.
Ich wollte diese Kolumne furchtbarerweise erst so schreiben, wie etwa Heiko Maas redet: Macht es nicht, liebe wütende Wähler! Ihr habt protestiert, ihr hattet die Aufmerksamkeit, eure Wut wurde gehört, kommt endlich wieder zur Vernunft. Ich wollte auch sagen: So scheiße geht es euch gar nicht, denn selbst den Ärmsten geht es in Deutschland im Verhältnis immer noch gut. Wenn eine Partei in den Bundestag kommt, die nicht einmal den Konsens der deutschen Vergangenheitsbewältigung teilt, dann fangen wir ganz von vorne an, versteht ihr? Wir fangen an einem Ort an, den schon Richard Weizsäcker für uns überwunden hatte, als er am 8. Mai 1985 im Bundestag stand und es endlich ausgesprochen hat: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.“
Ich wollte schreiben: Macht es nicht. Schmeißt noch einmal alles um: In dem Moment, in dem ihr die Wahlkabine betretet, müsste doch der Protesthannes erwachsen werden und sagen: Jetzt ist’s aber auch gut.
Wir hätten reden müssen
Doch kurz vor der Wahl ist klar, dass man das so von oben herab nicht mehr sagen kann. Denn: Wir haben viel zu wenig diskutiert. Auch Sätze wie die des Dalai Lama hätten sagbar bleiben müssen. Der Maulkorb hat Helden geschaffen. Helden, die keine Lösungen zu bieten haben für das Heute oder Morgen. Wir hätten zugeben müssen: Wir haben genauso wenig eine Lösung zu bieten. Und Angst haben wir im Grunde auch. Die brutale Wahrheit ist doch, dass keiner von uns weiß, wie man sich durch eine Welt manövriert, in der ein Trump von „totaler Zerstörung“ faselt, als hätte er noch nie ein Geschichtsbuch in Händen gehalten.
Wir hätten reden müssen, auch über verbindliche Obergrenzen. Damit hätten wir auf Dauer vielleicht 300.000 Menschen jährlich Schutz zugesichert. Stattdessen wird jetzt nur noch über Abschiebungen diskutiert, weil 300.000 tabu waren. Ist das besser? Tabubrüche haben aus No-names Politiker gemacht, die in den Bundestag einziehen werden, um weitere Tabus zu brechen. Es darf keine Tabus geben im öffentlichen Diskurs, sonst misstraut man seinen Argumenten.
Jeder kennt den Satz: Frag nicht, was dein Land für dich tun kann, frag, was du für dein Land tun kannst. Auch so ein bescheuerter Satz, weil er „dein Land“ sagt. „Dein Land“ ist so etwas, wogegen ein Weltbürger sich wehrt. Es ist meine Welt. Aber dann wieder kannst du nur in diesem Land dein Wahlkreuz setzen. Du kannst nur in diesem Land mit entscheiden, wohin die Reise geht. Du kannst jedoch in jedem Land dafür beten, dass nicht irgendein Größenwahnsinniger mit viel Geld im Koffer und dem Finger auf dem Atomknopf sowieso alles über deinen Kopf hinweg entscheidet.
In diesem Sinne verneige ich mich auch vor dem Dalai Lama, trotzdem.
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