Debatte Missbrauch: Fliegende Bischofsmütze
Die öffentliche Meinung richtet selbstgewiss über den Klerus und entledigt sich darüber der Aufgabe, ihre Mitverantwortung zu diskutieren.
E s ist kein Witz, aber man möchte trotzdem lachen. Nun fegen also "ein paar Watschn" und finanzielle Unregelmäßigkeiten dem Walter Mixa die Bischofsmütze vom Kopf. Unglaublich, was alles möglich ist zurzeit.
Der sogenannte Missbrauchsskandal scheint kein Ende nehmen zu wollen, und auch wenn man es schon nicht mehr hören oder lesen will, wird der highest score der schmutzigen Enthüllungen aus dem verklemmt-katholischen wie aus dem freizügig-reformerischen Lager immer weiter nach oben korrigiert. Dass es so viele Schandtaten sind, die ans Licht kommen, liegt einerseits ganz klar an den lange Zeit beschwiegenen Verbrechen kirchlicher wie weltlicher Einrichtungen. Andererseits entsteht die hohe Zahl aber auch, weil der Topf, in den die Opfer gesteckt werden, verdammt groß ist: "Missbrauch" heißt in der gegenwärtigen Debatte alles und jedes, von der Ohrfeige bis zum Rohrstockgebrauch, vom zarten Streicheln bis zur Penetration. Es ist erstaunlich, warum jenseits der dümmlichen Abwehr, es handele sich nur um "Einzelfälle" und finde meist außerhalb der Kirchen statt, kaum jemand auf die Idee kommen will, doch einmal genauer zu fragen, wieso hier so einhellig von Missbrauch geredet werden kann, und vor allem, warum der Begriff so gut als Marker taugt.
Die Sicherheit, mit der nun alle wissen, dass wir es mit einem einzigen großen Delikt zu tun haben, ist beunruhigend. Um die Opfer, so steht zu befürchten, geht es nur in zweiter Linie, die Skandale scheinen eher ein Anlass, Dampf abzulassen und mit den Institutionen abzurechnen.
Andrea Rödig lebt und arbeitet als freie Publizistin in Wien. Von 2001 bis 2006 leitete sie die Kulturredaktion der Wochenzeitung Freitag.
Entnervend ist die eifrige Einseitigkeit, mit der sich die FAZ an der Odenwaldschule abarbeitet, noch lächerlicher aber wirkt das gespannte Lauern aller medialen Berichterstatter auf Bekenntnisse hoher kirchlicher Würdenträger. Da werden Hirtenbriefe und die Osterbotschaft einer akribischen Hermeneutik unterzogen, und wehe, wenn der Papst nicht auf die Missbrauchsfälle eingeht. Unter der Hand hat sich die öffentliche Meinung zur über den Klerus richtenden Instanz aufgeschwungen und imitiert dabei perfekt die kirchliche Gier nach bußfertigen Schuldbekenntnissen. Als ob die etwas helfen würden. Der empörte Aufschrei über das Verhalten der Kirche ist mittlerweile so scheinheilig wie jeder normale Gang zum Beichtstuhl.
Auch in anderer Hinsicht übernimmt die öffentliche Meinung eine Kirchenlogik, denn dass das Opfer rein und unschuldig ist, ist ebenfalls ein Paradigma christlichen Denkens. Gut und Böse, Himmel und Hölle, man möchte sich hübsch an eine Ordnung halten, von der man doch eigentlich weiß, dass es sie so ganz genau nicht gibt. Es wird in den jetzt bekannt gewordenen Missbrauchsfällen einiges an Unentscheidbarem und Ambivalentem vorkommen, es wird Opfer geben, die selber Täter wurden, und Täter, die Opfer waren. Das aber interessiert noch niemanden.
Der Begriff "Missbrauchsopfer" hatte immer etwas bedrohlich Schlüpfriges, im Moment jedoch mutiert er zum frisch gewaschenen Haustierchen im heimischen Wortschatz. Bezeichnungen wie "Missbrauchsbeauftragter" oder "Missbrauchshotline" gehen mittlerweile so locker über die Lippen, als handele es sich dabei um so etwas wie einen Kundenservice.
Warum versucht niemand, eine andere Sprache für die Situation zu finden? Die Kirche braucht nicht einmal ein neues Vokabular, "Buße, Umkehr und Erneuerung" hat sie ehedem der Gemeinde gepredigt, jetzt predigt sie es eben auch sich selbst.
Und die Öffentlichkeit redet von Opfern und von Tätern. Keine Frage, es gibt sie. Doch sich in dieser Logik einzurichten ist gefährlich. Kirche und Odenwaldschule, schuldig wie sie sind, haben nun die vakante Position des Kinderschänders übernommen. Sie entlasten damit die Gesellschaft von ihrer Scham darüber, dass sie so lange weggeschaut hat und überdies immer irgendeinen Machtmissbrauch toleriert. Ein Weiteres kommt hinzu, denn indem die öffentliche Meinung Prügel und sexuelle Gewalt so einhellig als "Missbrauch" verdammt, vergewissert sie sich eines neuen Paradigmas: der absoluten Liebe zum spärlich gewordenen Nachwuchs.
Kinder haben heute einen ganz anderen Stellenwert als vor 30 Jahren. Sie sind das Tabu, das unberührt rein gehalten werden muss, daher wird jetzt nachträglich verurteilt. Diese unbedingte Liebe zum Kind spiegelt auf eigenartige Weise die "Pädophilie" der Täter und ist ihr vielleicht nicht ganz so fremd, wie der Sündenbockmechanismus glauben machen soll. Jedenfalls bleibt in jeder allzu eindeutigen Empörung unsichtbar, was man Abhängigen heute auf dieselbe und auf andere Weise antut. Gewalt ändert in der Regel nur ihre Form, nicht ihr Ausmaß.
Aus den Diskussionen über sexuellen Missbrauch in den 1990er-Jahren hatte man gelernt, sich nicht auf die Opfer und Täter zu konzentrieren, sondern auf die unterliegende Struktur gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse. Darüber hinaus wusste man um die Nachteile des Wortes "Missbrauch", unter anderem, weil es nahelegt, es gebe einen richtigen "Gebrauch" des Kindes, oder auch weil der Satz "Ich bin missbraucht worden" keine Position der Handlungsfähigkeit erlaubt, sondern nur den Opferstatus zementiert. Zeitweise galt "sexuelle Gewalt" als der bessere Begriff.
Von solchen Differenzierungen ist heute keine Rede mehr. Manchmal ist es wichtig, auch unklare Dinge klar zu benennen, und die Skandalisierung unter dem Schlagwort "Missbrauch" hat ihre gute Funktion. Mixas Bischofshut darf ruhig fliegen. Doch es bedarf eines komplexeren Denkens, nicht zuletzt, weil die binäre Logik allzu schnell kippt. Es ist nur eine Frage der Zeit, dass die Stimmung umschlägt, und auf eine Debatte über sexuellen Missbrauch folgt eine über den "Missbrauch des Missbrauchs" fast so sicher wie das Amen in der Kirche. Dagegen hilft nur vorbeugen und klar sehen, dass "Missbrauch" immer etwas mit Strukturen zu tun hat, und dass der Begriff, unkritisch verwendet, genauso viel versteckt, wie er enthüllen möchte.
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