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Debatte Links gegen RechtsWas kann uns noch retten?

Kommentar von Georg Seeßlen

Viele Menschen hoffen auf die demokratische Zivilgesellschaft. Doch die gibt es erst dann, wenn wir sie schaffen.

Ein Gegendemonstrant wehrt sich gegen die Demonstration der Partei Pro-NRW in Köln Foto: dpa

S eit ungefähr dreißig Jahren gibt es die Stimmen, die warnen vor den anschwellenden Bocksgesängen der Neuen Rechten, vor Pop-Nationalismus und halbfaschistisch durchsetzter Postdemokratie, vor der Erosion der aufklärerischen Kritik auf einem durchökonomisierten Markt der Meinungen, vor der semantischen Vergiftung durch das, was man nun doch wieder sagen wird dürfen, vor dem Salonfähigwerden antihumanistischer, fremdenfeindlicher und nationalistischer Parolen, vor den Kulten von Verachtung und Ausgrenzung und noch vor etlichem anderen.

Es ist alles so gekommen, wie die Warnenden es beschrieben haben. Höchstens noch ein wenig schlimmer. Und wer ist schuld daran? Wenn es nach den Diskursverwaltern und Geschmacksverstärkern in unseren Leitmedien geht: natürlich die Warnenden selber. Die Linken und Linksliberalen, die Intellektuellen und das Debatten-Establishment, die Queeren und die Multikultis, die Übertoleranten und Unternationalisierten, eben alle die, die man über die Jahrzehnte aus der Mitte der politischen Kultur gedrängt hat. Was waren sie aber auch immer besserwisserisch, uncool und spielverderberisch. Jetzt, wo das Kind Demokratie in den Brunnen gefallen ist, stehen sie ermattet und entmachtet da und haben auch kein Rezept mehr gegen die Faschisierungen und Fundamentalisierungen.

Es ist der große Hölderlin-Satz des deutschen Idealismus: „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.“ Ist das so? Und wenn: Für wie viele kommt das Rettende zu spät?

Das Rettende jedenfalls, das in der größten Gefahr für Demokratie und Menschenrechte derzeit wachsen soll, hat schon einen Namen: „die demokratische Zivilgesellschaft“. Dem einen ein mächtiges Bollwerk, das seine Stärken zeigt, wenn es um Verhinderung oder Gegenstimme rechter Aufmärsche geht, der anderen ein Hoffnungsstrahl der Rückbesinnung auf die Werte von Verfassung und Freiheit, dem dritten einer der berühmten Strohhalme, an die sich Ertrinkende klammern, und wieder einer die schiere Illusion, Teil der letzten Beschwichtigungen vor der Katastrophe.

Gut ist nur die Praxis

Fest steht jedenfalls: Es „gibt“ sie nicht, die demokratische Zivilgesellschaft. Sie ist wie das Gute bei Erich Kästner („Es gibt nichts Gutes / außer: Man tut es“) nie anders vorhanden als durch eine Praxis. Wer also glaubt, „Hoffnungen zu setzen“ in die demokratische Zivilgesellschaft, um sich dann wieder seinen Geschäften zu widmen, hat sie schon verraten.

Eine Projektion zu sein, hat die demokratische Zivilgesellschaft gemeinsam mit dem von rechts besetzten „Volk“. Es waren ja ganz gewöhnliche Leute, Nachbarn, Freunde, Menschen, mit denen man über Brotpreise und Regenwolken sprach und sich den Kinderspielplatz teilte, die plötzlich bemerkten, dass es ihnen guttat, sich als Teil des Volkes zu fühlen, gegen Ausländerfluten und Schmarotzer, gegen das liberale Establishment und gegen die „Lügenpresse“.

Das Volk existiert genauso wenig wie eine demokratische Zivilgesellschaft, es handelt sich vielmehr um konträre Projekte der Kollektivierung, der Reduktion und Konzentration von Interessen, Anschauungen und Kulturen. Oder um es noch konkreter zu sagen: Es handelt sich um die Bildung eines politischen Subjekts. Wer sich in diesem Sinne als „Volk“ versteht, verlangt nicht weniger als die Ablösung der offenen, demokratischen, zivilen und aufgeklärten Gesellschaft durch eine geschlossene, autokratische, militarisierte und mythische Gemeinschaft. Von den Repräsentanten der „alten“ Demokratie haben schon erschreckend viele signalisiert, dass sie diesem Transformationsprozess durchaus entsprechen wollen, solange man gewisse demokratische Formalien und natürlich die je eigenen Interessen unangetastet ließe, und in den Leitmedien häufen sich Kommentare, die wirken, als handele es sich um Bewerbungsschreiben für das Propagandaministerium einer kommenden AfD-Regierung.

Die „demokratische Zivilgesellschaft“ kann also schon mal nichts Rettendes sein, was aus dem Zentrum der demokratischen Macht und ihrer medialen Diskurse stammt. Oder anders gesagt: Der Bruch zwischen der völkischen Reaktion und dem demokratischen Widerstand dagegen verläuft nicht zwischen Straße und Parlament, zwischen „Qualitätsmedium“ und „Lügenpresse“-Geschrei, sondern geht quer durch die Parteien, die Medien, die Behörden und so weiter.

Zivilisierung der Diskurse

Eine demokratische Zivilgesellschaft lässt sich also nur zugleich in zwei Richtungen als Projekt für ein neues politisches und kulturelles Subjekt definieren: als Widerstand gegen die drohende Machtübernahme durch eine neue/alte völkische, antidemokratische Rechte und als radikale Erneuerung des demokratischen Projekts selbst, auf regionaler, nationaler und nicht zuletzt auf europäischer Ebene.

Sie ist demokratisch nicht als Verteidigung der Restdemokratie, sondern als Projekt des demokratischen Neubeginns; sie ist zivil nicht nur im Sinne einer Entmilitarisierung der Politik und des politischen Jargons, sondern auch im Sinne einer Zivilisierung der Diskurse; sie ist Gesellschaft nicht nur im Sinne einer Alternative der offenen und sich entwickelnden Gesellschaft gegen die geschlossene ideologische, nationalistische, ökonomische und auch religiöse Gemeinschaft, sondern auch im Sinne einer Sozialisierung des Lebens als Suche nach neuen Formen von Solidarisierung und Verantwortung.

Oh, gewiss: Die „demokratische Zivilgesellschaft“, ob es sie nun „gibt“ oder ob sie ein gemeinsamer Traum von sehr unterschiedlichen Leuten ist, die nach etwas Besserem suchen als dem Tod der Demokratie, ist kein leichtes Unterfangen in Zeiten von Terror und Opportunismus. Aber so wie der Nachbar zur Rechten plötzlich aufwachte und sich als „Volk“ zu Hass und Häme befähigt sah, könnte doch auch der Nachbar auf der anderen Seite plötzlich aufwachen und sich als Teil einer demokratischen Zivilgesellschaft erkennen. Als Teil des Rettenden, was vielleicht schwieriger, aber auch glücklicher ist, als sich widerstandslos der Gefahr zu beugen, die Augen davor zu schließen oder sie sich schönzureden.

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6 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Es gibt sie schon noch, „Die demokratische Zivilgesellschaft“, sie wurde aber leider durch die Politik der letzten 20 Jahre zu einem Tiger ohne Zähne degradiert!

     

    Seit längerem ist der Politik daran gelegen gerade die Zivilgesellschaft zu entmachten, da gerade diese sich immer wieder bereits im Kleinen versucht hat zu behaupten.

     

    Allein durch Abschaffungen von Ein – bzw. Widersprüchen gegen diverse Bescheide der Gemeinden oder Kreise wurden, bis dato nichtpolitische Personen in eine Richtung gedrängt, sich gegen die herrschende Politik zu wenden.

    Inzwischen ist es üblich geworden, dass Ämter den Bürger in jedem Bereich als kriminellen Bittsteller ansehen, der sich auf dem Sozialsystem ausruhen möchte, sei es bei Hartz IV oder beim Kindergeld oder Wohngeld.

    Selbst wenn man einen z.B. Bauantrag stellt, wird man als Bittsteller behandelt und muss mit der behördlichen Willkür kämpfen.

     

    Da es aber keine Alternativen in der Parteienlandschaft mehr zu der CDU/CSU, SPD, Grünen,Linken und auch der FDP gibt, haben sich immer mehr Menschen eben den sogenannten Populisten angeschlossen, in der Hoffnung dass ausgerechnet diese eine andere Linie als die der Ausgrenzung der Zivilen Gesellschaft bietet.

     

    Wenn man sich einmal anschaut, wie sehr Hartz IV eine Spaltung der Zivilen Gesellschaft voran getrieben hat, weis man, das dahinter ein gewisser Wille zur Spaltung steckt, vielleicht unbewusst, welches ich mir aber nicht vorstellen kann, wenn man sich anschaut, dass Hartz IV von Mitarbeitern eines der größten Konzerne Deutschlands mit Beteiligung des Bundeslandes Niedersachsen und des Bundeskanzlers, erdacht wurde.

    Durch Hartz IV wurde es der Wirtschaft erst ermöglicht die Niedriglohn Beschäftigung voran zu treiben,wo durch eine Schwächung der Zivilen Gesellschaft beschleunigt wurde.

     

    Jeder in der deutschen Wirtschaft muss heutzutage damit rechnen einer der Nächsten zu sein, der in dieses Armutssystem abrutschen kann und die Politik hat es nicht Begriffen!!!

  • 8G
    849 (Profil gelöscht)

    Vor 1990 haben die bemäntelten Rechten aus dem "einfachen" Volk gesagt "das darf man aber nicht sagen". Heute, nachdem sie glauben, ihr Mäntelchen ungestraft ablegen zu können, sagen sie "das wird man ja wohl (noch) sagen dürfen". Die alte Bundesrepublik hat sich als eine geriert, welche die Vergangenheit bewältigt glaubte, ungeachtet solcher Mahner wie Adorno, der schon damals nicht die offen Rechten, sondern die verhohlenen Rechten inmitten der Gesellschaft als Gefahr ansah. Wir haben lange Demokratie bloß gespielt und uns eingelullt. Nun stehen wir alle vor den Scherben dieser Haltung und wissen nicht mehr, wie wir diese wieder zusammensetzen sollen. Nicht die Warnenden waren schuld, sondern die Schön- und Sonntagsredner.

  • Was kann uns noch retten?

     

    Hysterie ala Sesselen jedenfalls nicht!

     

    Gelassenheit und Klugheit würde uns helfen zu erkennen, das die demokratische Zivilgesellschaft lebt und handlungsfähig ist.

     

    Die Wahrscheinlichkeit einer "AfD-Machtübernahme" ist sicherlich viel geringer als, dass sich dieses reaktionäre Phänomen in den nächsten Monaten als das entpuppt was es vor allem ist: Ein virtueller Fake.

  • Es gibt sie, die ZIVILGESELLSCHAFT - Nur der Gegensatz hat eine Konsum - Note bekommen.

    Immer, wenn es um neue Ideen geht, spaltet sich ein Teil der Bürger ab, versucht private Lösungen zu finden oder isoliert sich mehr und mehr. Das ist die Gelegenheit für Scharfmacher und Einsammler von verstörten und zu kurz gekommenen Menschen auf der einen Seite und begüterten, nicht engagierten Leuten, die ihre vergangenen Erfolge behalten oder konservieren wollen.

    Dazu kommt die Welle vom Tod der Kriegs-Generation, die für die Gleichberechtigung und eine europäische Friedenspolitik eingetreten ist. Die NEUE LEBENS-Gemeinschaft kommt hoch, wie in den 60er und 70er Jahren. Mit neuen Ideen, Vernetzungen über dar Internet und absolute Selbstdarstellung . . .

    Es wird spannend. 2017 kommt das NEUE. Aber das ALTE ist vorbei!

  • 8G
    80336 (Profil gelöscht)

    Angesichts der sichtbaren Realität, und nicht der gemeinten Realität, ist heutzutage das Links-Rechts-Schema an Lächerlichkeit kaum noch zu überbieten. Sind die damaligen so genannten Linken mittlerweile doch dort angekommen, wo anno dunnemal sich die so genannten Rechten tummelten, die damals noch Konservative hießen, und die Rechten mittlerweile dort angekommen, wo sich damals die völkische Bewegung herumtrieb. Es waren damals auch nicht die Nazis, die aus dem Nichts kommend überfallartig über die Deutschen wie Heuschrecken herfielen, sondern die lieben Nachbarn, die biodeutschen Arbeitskollegen, etc., eben jene "demokratische Zivilgesellschaft", die sich heute von der damaligen durch nichts unterscheidet. Die damalige war sogar noch widerstandfähiger als die wissenschaftsbasierte Informationsgesellschaft von heute: der Vergleich des damaligen Umfangs an offenem Widerstands gegen die martialisch auftretenden geistigen Tiefflieger vor deren "Machtergreifung" mit dem jetztigen Widerstand gibt beredte Auskunft über das Ausmaß der zu erwarteten Reaktion gegen die allgegenwärtige Verdummung und Simplifizierung, die geradezu im Schweinsgalopp nun wieder um sich greift:

     

    Biodeutsche - Stillgestanden!

    Reeechts - um!

    Im Gleichschriiiitt - Marsch!

    Links, Links, Links, zwo, drei, vier ...

     

    Was ist da hinten los?

    Grüne, Sozis, Linke: Aufschließen!

    ...

    Vorne etwas kürzer treten,

    die hinten liegen schon waagrecht in der Luft.

     

    Links, Links, Links, zwo, drei, vier ...

    Rechts schweeeenkt - Marsch!

    Geradeeee ...

    Aus!

     

    Links, Links, Links, zwo, drei, vier ...

  • 2G
    2730 (Profil gelöscht)

    Im Prinzip: Es gäbe nichts, was ich mir mehr wünschen würde. Aber mir stellt ich dringendst die Frage, wie denn der "Nachbar auf der anderen Seite" aufwachen soll bei dem Wirrwar, den ihm seine Seite darreicht?

    Der Nachbar rechts hat's einfach: Einfache Themen, einfache Ziele, einfache Sprüche, (scheinbar) einfache Lösungen.

    Per se sind Demokratie und Zivilgesellschaft eh komplizierter, und zwar kognitiv wie affektiv: Man muss sich mit den Themen auseinandersetzen, man muss (irgendwie) mit entscheiden, aber... ABER... man muss auch ertragen (tolerieren), dass gegen die eigenen Ziele und Meinungen entschieden wird. Toleranz ist eine Haltung, die nicht einfach einzunehmen und durchzuhalten ist.

    Wenn dann aber auch noch mehrheitliche Neben-Themen zu zentralen Anliegen erhoben werden...wenn der Andersnachbar glaubt, es ginge um nur noch um neue Lebensformen oder um Unisex-Toiletten, dann wird er nicht aufwachen. Oder vielleicht doch - wenn es zu spät ist.

    Derzeit ist der Aufstand der Anständigen gefragt. Dazu müssen ökonomische Lösungen her. Mehr nicht. Wenn sich der "Durchschnittsnachbar" sicher und wohl fühlt im Haus, kommt alles Weitere von selbst.

    Aber: Intellektuelle Befindlichkeiten haben derzeit zurückzustehen. Mir kommt es oft so vor, als wenn unser aller Boot kurz vor dem Kentern stehe und die intellektuelle Linke streitet sich darum, wer den Abwasch machen sollte.