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Debatte LibyenOje, Gaddafi ist ein Diktator

Kommentar von Marc Thörner

Das bei linken Kritikern beliebte Bild vom aufgeklärten Despoten verkennt fahrlässig die Lage der meisten Libyer vor dem Nato-Angriff

Heuchler", "Diebe!", "Lakaien Frankreichs und der USA!" Höflichere Bezeichnungen für die Staatschefs des Maghreb fielen der 20-jährigen Studentin Amina wirklich nicht ein.

Man schrieb das Jahr 1994, und wir spazierten damals durch die Ville Impériale im marokkanischen Meknes, über den Rasen, der das unterirdische Gefängnis Moulay Ismaels zudeckte. Etwa zehn Meter tiefer hatte der ebenso reformfreudige wie brutale Herrscher Ende des 17. Jahrhunderts Menschen verschwinden lassen. Sie lagen hier so lange in ihrem Gestank, bis ein rätselhafter Wille sie erlöste oder sie von alleine krepierten. Zum Glück, so meinte Amina, gebe es 300 Jahre später Männer, die ihre Visionen nicht durch Zwang vermittelten, sondern Überzeugungskraft. Männer wie Oberst Gaddafi, den Verfasser des Grünen Buchs: Islam und Sozialismus, Bildung und Basisdemokratie, all das hatte der libysche Revolutionsführer aus ihrer Sicht vereint und überdies das Land mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen Afrikas geschaffen.

Die andere Sightseeingtour

An den Spaziergang mit Amina musste ich denken, als ich mich vor ein paar Wochen in Bengasi durch das unterirdische Geheimgefängnis Muammar al-Gaddafis bewegte. Aufständische hatten es im Februar 2011 geknackt. Das Verlies ist ähnlich groß wie das von Moulay Ismael, etwa wie ein Fußballfeld. Alles ist sorgfältig planiert und asphaltiert. Gut möglich, dass eine ausländische Baufirma hier den lukrativen Auftrag zum Ausschachten einer Tiefgarage umgesetzt hatte. Tatsächlich aber wurden dort Gefangene lebendig begraben und vegetierten in ihrem Kot und ihrem Urin dahin, bis zum Februar 2011.

MARC THÖRNER

hat Islamwissenschaften studiert und arbeitet heute als freier Journalist. Seine Reportagen aus arabischen Ländern veröffentlichte er in "Der falsche Bart" (2007) und "Afghanistan-Code" (2009, jeweils Nautilus).

Für meinen Freund Ali, dank dessen Taschenlampe wir uns vortasteten, war es unvorstellbar, dass irgendwo auf der Welt zu irgendeinem Zeitpunkt irgendjemand den Schöpfer dieser Gruft mit etwas Modernem in Verbindung bringen könnte. Als Ostlibyer hatte er schon alles Mögliche gesehen, Modernes aber eher nicht.

Statistisch gesehen ist der Gesamtstaat zwar ungleich reicher als seine Nachbarn. Das vorhandene Geld aber wurde, mit Ausnahme weniger Prestigeprojekte, nur in diejenigen Regionen investiert, die dem Gaddafi-Clan als politisch zuverlässig erschienen. In der Cyrenaika etwa verfallen Häuser, klaffen Löcher in den Straßen, falls die Verbindungswege überhaupt asphaltiert sind, Hafenanlagen sind veraltet und verrotten. Schon eine durchschnittliche marokkanische, tunesische, algerische Region wirkt im Vergleich wie aus dem Ei gepellt.

In Libyen sorgten gut organisierte Grundschulen für eine flächendeckende Alphabetisierung. Fremdsprachen jedoch wurden so gut wie gar nicht unterrichtet. Das Land rekrutierte Gastarbeiter in den Nachbarländern. Libyer selbst sind nicht einmal im Maghreb konkurrenzfähig. Chancen auf einen internationalen Bildungsstandard konnte sich nur ausrechnen, wer aus einer zuverlässigen West-Region stammte und vom Regime zum Studium ins Ausland geschickt wurde.

Die Übergriffe vor dem Angriff

Als Ali und ich durch das unterirdische Geheimgefängnis gingen, waren wir gerade von einer Tour nach Adschdabija zurückgekehrt. Wir hatten Kinder mit Verbrennungen am ganzen Körper gesehen, Zivilisten, denen nach dem gezielten Beschuss auf ihre Wohnhäuser Gliedmaßen amputiert werden mussten, mit den Familien vergewaltigter Frauen gesprochen und in den Krankenhäusern deren Fälle nachrecherchiert. Die meisten dieser Übergriffe von Gaddafi-Truppen hatten sich vor Beginn der Nato-Luftschläge ereignet.

Zurück in Deutschland, erzählte ich beim Afrika-Verein der deutschen Wirtschaft von diesen Dingen. Man fiel aus allen Wolken. Unglaublich! Solch ein Regime war das? Man habe selbstverständlich nie einen Diktator unterstützt, sondern nur Bauaufträge oder ähnliche Projekte vermittelt, die den Menschen zugutekamen. Libyen unter Gaddafi, das sei das Land mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen Afrikas gewesen, zufriedenen Menschen und so weiter.

Schlagseite linker Kritiker

Überraschend war, dass linke Kritiker des Nato-Einsatzes ähnlich argumentierten. Wie könne es angehen, fragte etwa der ehemalige Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik Reinhard Mutz, dass Libyen mit seiner hohen Platzierung im UNO-Human-Development-Report über Nacht zum Schurkenstaat degradiert werde! (Blätter für deutsche und internationale Politik, 6, 11). In der Manier von Wirtschaftskapitänen versicherte man, mit Gaddafi persönlich nichts am Hut zu haben (Daniela Dahn, ebd., 7, 11), auch sage die Platzierung auf Platz 53 noch "nichts über Rechtsstaatlichkeit, nichts über persönliche Freiheiten der Bürger" in Libyen aus.

Doch dessen ungeachtet bemüht man sich im Anschluss fieberhaft, Hinweise für folgende These zu sammeln: Regierungstruppen hätten vor dem Nato-Einsatz keine Massaker unter der Zivilbevölkerung veranstaltet. Daniela Dahn informierte in ihrer Replik auf Mutz gar darüber, dass die Gewalt in Libyen ursprünglich von einer Gruppe fanatisierter Islamisten ausgegangen sei, deren Erregung über die Mohammed-Karikaturen groß war. Fünf Jahre später hätten Sympathisanten den Jahrestag der damaligen Ausschreitungen feiern wollen, dann habe der Staat eben reagiert. Morde der Aufständischen an vermeintlichen Milizionären werden erwähnt, Angriffe von Söldnern auf zivile Wohngebiete, deren Misshandlungen von Frauen nicht.

Warum eine zynische Geostrategie von EU und USA im Umkehrschluss bedeutet, dass über recherchierbare Kriegsverbrechen zu schweigen ist, erschließt sich mir nicht, scheint aber unter vielen (linken) Kritikern des Nato-Einsatzes einer Art Common Sense zu entsprechen.

Als Effekt entsteht das Bild von einem - für Afrikaner - vorbildlichen Gemeinwesen, unter einem zwar brutalen, aber sozial denkenden Diktator. Die Idee vom aufgeklärten Despoten ist offenbar, von links bis rechts, nicht totzukriegen. Und so werden wir in Hunderten Jahren noch immer über die gleichen Hohlräume wandeln; wohl nicht nur im übertragenen Sinn.

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7 Kommentare

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  • B
    Bernhard

    Leider bedient der Autor die selben Allgemeinplätze, die er so bedauert. Im Artikel ist nichts von einer objektiven, unparteiischen Darstellung der tatsächlichen Lage in Libyen zu erkennen. Ist der Leser nun besser über beide Konfliktparteien informiert? Mitnichten. Leider ist es nicht möglich, sich in deutschen Medien ein reales Bild zu machen. Nur zwei Beispiel: Warum lesen wir nichts über milit. Ausbildungscamps für Libyer in Virginia(USA), warum nichts über die Vita ALLER Mitglieder des Rebellenrates? Selbst die UNO ist an Zynismus nicht zu überbieten! "So sind die Menschenrechtsverletzungen auf Seiten der Rebellen nicht so zahlreich" Bei welcher Zahl fangen dann Verbrechen an?

  • T
    taztest

    Ein ausgezeichneter Kommentar! Er beschreibt treffend die Argumentation vieler linker Kritiker, die man auch kondensiert so zusammenfassen kann:"Der Feind (Gaddafi) meines Feindes ("der Westen") ist nicht mein Feind!".

  • GL
    grünes libyen

    nichts als benghazi-propaganda ist das, was sie hier schreiben. wo bleiben die viagrastories?

    mit ihrer propaganda machen sie sich mitschuldig an diesem schmutzigen nato-angriffskrieg!

     

    sagen sie uns doch auch, dass der verantwortliche justizminister der letzten jahre "Abud al-Dschelail" der vorsitzende des übergangsrates ist! aber der wußte sicher nichts von diesen angeblichen gefängnissen, die unschuld in person.....

     

    stoppt diesen unsinnigen krieg!

  • R
    RalphS

    Marc Thörner, schrieb in anderen Berichten u.a. was von der Viagra Geschichte – die sich möglicherweise - wie die Brutkastenlüge - als Märchen herausstellen wird. Er erwähnte nicht, dass die Aufständischen unter der Trikolore der Monarchie kämpfen und von der LIFG (Libyan Fighting Group), al-Qaida, dem CIA, MI5, MI6 und Mossad unterstützt werden. Und das die Unterstützung der Aufständischen durch Nato etwas mit Imperialismus zu tun haben könnte, kommt dem ehemaligen embedded Journalist, bei der US-Army im Irak, nicht in den Sinn.

     

    MARC THÖRNER schreibt: Das vorhandene Geld aber wurde, mit Ausnahme weniger Prestigeprojekte, nur in diejenigen Regionen investiert, die dem Gaddafi-Clan als politisch zuverlässig erschienen.

     

    Antwort

    Aber was ist dann mit dem Multimilliarden Dollar Great Man River Projekt, das Gaddafi bauen ließ, um den Wüstenstaat Libyen für die nächsten paar Tausend Jahre mit eiszeitlichem Wasser zu versorgen ?

     

    Über ganz Libyen erstreckt sich ein Netz von Meter dicken Pipelines, die alle Libyer, auch die in Bengasi, mit reinstem eiszeitlichem Wasser – die Reserven haben einen Billionen Euro Wert - versorgen und mit dem auch die Landwirtschaft betrieben wird.

    Allerdings konnte die Anlage durch den Bürgerkrieg und das Wirtschaftsembargo nicht weiter gewartet werden. Sollte also nun die letzte von mehreren Gasturbinen ausfallen, sitzen 6 Millionen Libyer auf dem trockenen und die komplette Landwirtschaft wird vernichtet.

     

    Erwähnenswert wären ein kostenloses Gesundheits- und Schulsystem.

     

    Aber auch andere Resourcen hat Libyen zu bieten,

    die auf Grund des Ölreichtums nicht einmal ansatzweise gehoben wurden. Libyen ist ein Rentenstaat, in dem alle Einwohner – auch die Unterschicht - vom Ölreichtum so gut partizipieren, dass sie eigentlich gar nicht mehr arbeiten müssen und auch einfach von den Sozialleistungen dieses vorbildlichen Sozialsttaates leben könnten.

     

    Dies zeigt die gigantische hohe Zahl an Gastarbeitern : 1,5 Millionen. Dabei hat Libyen nur 6 Millionen Einwohner. Auf Deutschland übertragen wäre das so, als wenn wir 20 Millionen Gastarbeiter hätten.

     

    Die libysche Unterschicht beklagt nur deswegen eine Arbeitslosenquote von 30 %, da sie die "Drecksarbeit" in der Landwirtschaft nicht selber erledigen wollen und diese Tätigkeit lieber Gastarbeiter verrichten lassen. In der Industrie sieht es nicht besser aus. Obwohl ausländische Unternehmen verpflichtet sind, mindestens 30% Einheimische einzustellen, können sie oft nicht einmal diese Quote erfüllen.

     

    Bei den Aufständischen das gleiche Schema: Ohne die gewaltige Unterstützung der ausländischen Natoluftstreitkräfte, kommen die Aufständischen keinen Meter weiter. Ohne Gastarbeiter geht’s eben nicht.

     

    "Oftmals schließen junge Libyer ihre Ausbildung nicht ab, da kein Ansporn besteht, selbst zu erledigen, was mit Hilfe der Einkünfte aus dem Erdöl auch fremde Arbeitskräfte machen können." Quelle: Handbuch Afrika von Walter Schicho, S. 134

     

    Das bodenlose Faß, in dem die menschlichen Resourcen Libyens verschwinden heißt "Ineffiziens und schlechte Arbeitsmoral". In Deutschland haben wir dafür - unnötigerweise - den Slogan: "Fordern und Fördern"

    Und auf Kuba gab es Komitees zur Bekämpfung von Arbeitsscheu.

  • F
    Florentine

    Der nächste PK-Bericht. Da ist sogar die ZEIT weiter.

  • S
    Stefan

    Die Unternehmen heucheln wenigstens noch, während die Linke den Antiimperialisten Gaddafi noch feiert!

  • R
    RalphS

    Marc Thörner, schrieb in anderen Berichten u.a. was von der Viagra Geschichte – die sich möglicherweise - wie die Brutkastenlüge - als Märchen herausstellen wird. Er erwähnte nicht, dass die Aufständischen unter der Trikolore der Monarchie kämpfen und von der LIFG (Libyan Fighting Group), al-Qaida, dem CIA, MI5, MI6 und Mossad unterstützt werden. Und das die Unterstützung der Aufständischen durch Nato etwas mit Imperialismus zu tun haben könnte, kommt dem ehemaligen embedded Journalist, bei der US-Army im Irak, nicht in den Sinn.

     

    MARC THÖRNER schreibt: Das vorhandene Geld aber wurde, mit Ausnahme weniger Prestigeprojekte, nur in diejenigen Regionen investiert, die dem Gaddafi-Clan als politisch zuverlässig erschienen.

     

    Antwort

    Aber was ist dann mit dem Multimilliarden Dollar Great Man River Projekt, das Gaddafi bauen ließ, um den Wüstenstaat Libyen für die nächsten paar Tausend Jahre mit eiszeitlichem Wasser zu versorgen ?

     

    Über ganz Libyen erstreckt sich ein Netz von Meter dicken Pipelines, die alle Libyer, auch die in Bengasi, mit reinstem eiszeitlichem Wasser – die Reserven haben einen Billionen Euro Wert - versorgen und mit dem auch die Landwirtschaft betrieben wird.

    Allerdings konnte die Anlage durch den Bürgerkrieg und das Wirtschaftsembargo nicht weiter gewartet werden. Sollte also nun die letzte von mehreren Gasturbinen ausfallen, sitzen 6 Millionen Libyer auf dem trockenen und die komplette Landwirtschaft wird vernichtet.

     

    Erwähnenswert wären ein kostenloses Gesundheits- und Schulsystem.

     

    Aber auch andere Resourcen hat Libyen zu bieten,

    die auf Grund des Ölreichtums nicht einmal ansatzweise gehoben wurden. Libyen ist ein Rentenstaat, in dem alle Einwohner – auch die Unterschicht - vom Ölreichtum so gut partizipieren, dass sie eigentlich gar nicht mehr arbeiten müssen und auch einfach von den Sozialleistungen dieses vorbildlichen Sozialsttaates leben könnten.

     

    Dies zeigt die gigantische hohe Zahl an Gastarbeitern : 1,5 Millionen. Dabei hat Libyen nur 6 Millionen Einwohner. Auf Deutschland übertragen wäre das so, als wenn wir 20 Millionen Gastarbeiter hätten.

     

    Die libysche Unterschicht beklagt nur deswegen eine Arbeitslosenquote von 30 %, da sie die "Drecksarbeit" in der Landwirtschaft nicht selber erledigen wollen und diese Tätigkeit lieber Gastarbeiter verrichten lassen. In der Industrie sieht es nicht besser aus. Obwohl ausländische Unternehmen verpflichtet sind, mindestens 30% Einheimische einzustellen, können sie oft nicht einmal diese Quote erfüllen.

     

    Bei den Aufständischen das gleiche Schema: Ohne die gewaltige Unterstützung der ausländischen Natoluftstreitkräfte, kommen die Aufständischen keinen Meter weiter. Ohne Gastarbeiter geht’s eben nicht.

     

    "Oftmals schließen junge Libyer ihre Ausbildung nicht ab, da kein Ansporn besteht, selbst zu erledigen, was mit Hilfe der Einkünfte aus dem Erdöl auch fremde Arbeitskräfte machen können." Quelle: Handbuch Afrika von Walter Schicho, S. 134

     

    Das bodenlose Faß, in dem die menschlichen Resourcen Libyens verschwinden heißt "Ineffiziens und schlechte Arbeitsmoral". In Deutschland haben wir dafür - unnötigerweise - den Slogan: "Fordern und Fördern"

    Und auf Kuba gab es Komitees zur Bekämpfung von Arbeitsscheu.