Debatte Künstlicher Fleischgenuss: Klassische Selbstentfremdung
Kunstfleisch gilt als Alternative zur Massentierhaltung. Doch auch für dessen Herstellung bedarf es einiger Tiere. Ist das ethisch vertretbar?
K ürzlich war ich in der Premiere eines Kinofilms, in dem, und das war etwas ungewöhnlich, auch ich selbst vorkam. Der Film heißt „The End of Meat“, und Filmemacher Marc Pierschel hat dafür in etlichen Ländern Menschen besucht und interviewt, die in irgendeiner Weise Techniken oder Utopien für eine mögliche zukünftige Welt entwickeln, in der kein Fleisch mehr gegessen wird.
Wie viel Anbaufläche würde dadurch weltweit für andere Nutzung oder neu entstehende Wildnis gewonnen, welche klimaschädlichen Emissionen könnten dadurch eingespart und welche Tierarten vor dem Aussterben gerettet werden? Welche Tiere würden diese Welt bevölkern, und wie würden wir Menschen mit ihnen zusammenleben – in Frieden?
Und zwischen all den Tierrechtlerinnnen und Veganern, den Umweltschützern und Aktivistinnen tauchte auch ein Wissenschaftler auf, der selbst Fleisch isst – aber gleichzeitig an der Entwicklung von Laborfleisch arbeitet, das es ermöglichen soll, weiterhin den „Genuss“ von Fleisch zu haben, ohne dass Tiere dafür sterben müssen.
Ich kann „Genuss“ hier nur noch in Anführungsstriche schreiben, denke an Muskeln und Gewebe und Blut und Nichtlebendiges. Aber viele Menschen empfinden es natürlich als Genuss, die weitaus meisten sogar. Immer mehr von ihnen wissen allerdings, dass Fleischessen erstens den Tieren gegenüber grausam und zweitens Quell ziemlicher Vergeudung und Umweltverschmutzung ist. Drittens lässt der Fleischkonsum weltweit Anbauflächen, Getreideernten und Wasservorräte schrumpfen, von denen der Hunger von Millionen, wenn nicht Milliarden Menschen gestillt werden könnte.
Der Mediziner Mark Post, Professor an der Universität von Maastricht, sagt im Film, dass er das Laborfleisch im Grunde für Menschen wie sich selbst entwickele, die wüssten, dass Fleischessen falsch sei, und doch nicht davon lassen könnten oder wollten. Dass auch Veganer später mal anfangen könnten, sein Fleisch zu essen, sei nicht Sinn der Sache, denn die ökologische Bilanz von „cultured meat“ sei ja immer noch schlechter als die von pflanzlichem Essen.
Ganz ohne Kuh geht es nicht
Dazu kommt, dass sein Fleisch nicht wirklich vegan ist; er benötigt dafür Stammzellen von einer Kuh und immer wieder Nachschub. Ganz ohne Kuh komme dieses Fleisch nicht aus, sagt Post, aber mit weniger Kühen sozusagen – sei das nicht ein Fortschritt?
Post ist nicht der einzige Wissenschaftler mit Ambitionen in Richtung Kunstfleisch; rund um den Globus arbeiten Teams an verschiedenen Herstellungsmethoden. Einige davon verwenden als Substrat nach wie vor Kälberserum, das eines der diabolischsten Produkte ist, die sich Menschen je ausgedacht haben: Es wird aus dem Blut ungeborener Kälber gewonnen, die noch in der Gebärmutter der Mutter stecken, wenn diese geschlachtet wird.
Die Mutter ist schon tot, der Fötus nicht, das Kälberherz schlägt noch; es handelt sich dabei um Kälber im letzten Drittel der Tragezeit, sie sind also schmerz- und empfindungsfähig. Und ohne Betäubung wird nun in das Herz dieses Kälbchens die Nadel zum Entnehmen des Blutes gesteckt. (Wenn Sie glauben, ich habe mir das ausgedacht: Bitte googeln Sie es.)
Ob Mark Post Kälberserum verwendet und wo, wie und wie lange die Kuh lebt, von der die Stammzellen stammen, und wie ihr diese Zellen „entnommen“ werden – all das wurde nicht deutlich. Am Ende des Films sagt der Forscher in die Kamera, er könne sich vorstellen, dass wir Menschen das Essen von Tierfleisch in ein paar Jahrzehnten „barbarisch“ fänden. Er fällt also gewissermaßen im Futur II ein vernichtendes Urteil über sich selbst – ganz so, als könnte er nichts anderes tun, als wäre der Gang der Dinge nicht zu ändern. Wenn das nicht klassische Selbstentfremdung ist!
Aber es geht mir hier nicht speziell um Mark Post aus Maastricht. Gut möglich, dass er im Grunde ein total netter Kerl ist, der bloß auf höchst ungewöhnliche Weise seine kognitiven Dissonanzen ausräumen will („eigentlich sollte ich kein Fleisch essen, ich will aber Fleisch essen, also baue ich ein Labor“).
Mir geht es darum, wie verdammt abgebrüht und gleichzeitig furchtsam, ja geradezu hasenfüßig wir geworden sind, wenn es darum geht, einzelne, aber signifikante Komponenten unseres gewohnten Lebens der Fremdbestimmung zu entreißen und zu ändern. Wie wir Menschen uns zu den (anderen) Tieren stellen und ob wir uns für befugt halten, über deren Gedeih und Verderb zu bestimmen, ist genau solch eine signifikante Komponente. Sie sagt viel aus über unser Bild von unserer Stellung im Kosmos und über unser Verhältnis zu Hierarchien und Gewalt. Nicht zuletzt ist dies auch die Frage, ob wir uns die Wehrlosigkeit von Wehrlosen zunutze machen oder nicht … Das Gewissen der meisten sagt: So was sollten wir NICHT tun.
All diese Widersprüche
Manche Veganer*innen sprechen beim Fleischessen von einer Sucht; bisher nahm ich an, sie meinten dies polemisch. Erstmals überlege ich jetzt, ob diese Bezeichnung vielleicht ernst gemeint sein kann. Oder was sollen wir aus all diesen Widersprüchen machen? So viele Menschen klagen über die Macht des Konsumismus und der Werbung – aber folgen beiden weiter.
Vermutlich alle Menschen, die dies hier lesen, halten Massentierhaltung für brutal – und die meisten finanzieren sie (ob mit oder ohne Bio-Siegel) weiter. Die meisten Menschen sagen, sie achteten oder liebten Tiere – und essen welche. Was für eine „Achtung“ ist das? Was heißt hier „Liebe“?
In ein und demselben Atemzug loben sie den Menschen als „höheres“, vernunftbegabtes Tier – und seufzen wie Mark Post darüber, dass sie mit dem Fleischessen „nicht aufhören können“. Ernsthaft?!
Gewiss, wenn es die Möglichkeit gäbe, auf umweltverträgliche und tierfreie Weise Kunstfleisch herzustellen, spräche in meinen Augen wenig dagegen. Aber hat es wirklich Sinn, darauf zu warten? Die Kühe für die Burger der nächsten Wochen und Jahre leben, leiden und sterben jetzt. Auch wir leben jetzt. Und jetzt ist die Zeit zu handeln. Immer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Täter von Magdeburg
Schon lange polizeibekannt
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt