Debatte Justizreform in Polen: Rettet das Recht
Die polnische Justizreform hebelt die Gewaltenteilung aus. Die EU muss darauf eine Antwort finden – am besten vor Gericht.
D er Name des Strafrichters, Dominik Czeszkiewicz, steht immer noch unter Nummer fünf auf der Website des Bezirksgerichts. Keiner weiß, wie lange noch. Jedenfalls kann keiner behaupten, der Mann sei nicht gewarnt worden: Er solle die Machthaber nicht ärgern, rieten ihm einige Kollegen. Er hat die Warnungen ignoriert.
Im Januar 2017 sprach Richter Czeszkiewicz in dem schmucklosen zweistöckigen Gerichtsgebäude in Suwałki Aktivisten der oppositionellen KOD-Bewegung, angeklagt wegen Protesten gegen die Regierungspartei PiS, frei. Es folgten ein Gerichtsbesuch des Stellvertretenden Justizministers und die Aufhebung des Freispruchs durch Berufungsrichter. Die Sache ging zurück, dann wieder hoch und runter. Das Ergebnis dieses Politpingpongs war noch nicht abzusehen, außer dass der regierungsfreundliche Berufungsrichter zum Gerichtspräsidenten ernannt und der unbeugsame Czeszkiewicz mit Disziplinarverfahren überzogen wurde. Der Vorwurf: Er habe ein Strafverfahren gegen eine Minderjährige um einige Tage verzögert.
Der Fall in Suwałki ist nur ein Beispiel. Ein Strafverfahren läuft gegen einen unbequemen Warschauer Richter, ein Disziplinar- und ein Korruptionsverfahren gegen den widerborstigen geschassten Sprecher des Krakauer Bezirksgerichts, ein Untersuchungsverfahren gegen eine Richterin, die Ärzte des verstorbenen Vaters des jetzigen Justizministers nicht verurteilen wollte.
ist Rechtsanwalt, EU-Abgeordneter der Grünen und Osteuropa-Experte
Diese Fälle haben System. Und dieses System heißt: Justizreform der PiS-Regierung. Der Kern der Reform ist klar: Die Regierung schafft faktisch die richterliche Unabhängigkeit ab. Gewaltenteilung, adieu!
Richter am Pranger
Die Instrumente der Regierenden sind nicht neu, man fühlt sich unfreiwillig an Sowjetzeiten erinnert. Bisher unabhängige Gremien für die Ernennung von Richtern wurden in Abhängigkeit von der Regierungsmehrheit gebracht, Disziplinarverfahren gegen Richter drakonisch verschärft. Auf Juristendeutsch würde man die Neuerungen als „inquisitorisch“ bezeichnen. Mittelalterliche Foltermethoden wurden zwar nicht eingeführt, aber die Verteidigungsmöglichkeiten beschuldigter Richter sind stark eingeschränkt, Disziplinarrichter werden zunehmend in die Rolle der Ankläger gedrängt. Die beschuldigten Kollegen können jetzt innerhalb von 24 Stunden ihre Immunität verlieren, ganz so, als wären sie terroristische Gefährder. Die Verfahren gegen sie können sogar in ihrer Abwesenheit verhandelt werden. Der Justizminister, nach PiS-Reformen zugleich auch Generalstaatsanwalt, darf bindenden Einspruch gegen die Ablehnung von Disziplinarverfahren einlegen. Gegen „undisziplinierte“ Richter sind jetzt auch rechtswidrig erlangte Beweise zulässig, etwa Ergebnisse telefonischer Abhörmaßnahmen.
Diese drakonischen Maßnahmen sind nur ein Teil der Reform. Die Stoßrichtung ist klar: Die Richter im Dienst sollen auf Linie gebracht, die junge Richtergeneration soll regierungskonform erzogen werden. Dafür gibt die Regierung auch positive Anreize: Richtern in den neuen Disziplinargremien des Obersten Gerichts, die ihre Kollegen überwachen, winken 40 Prozent Lohnaufschlag. Von den bisherigen Richtern werden möglichst viele ausgetauscht: Bis nächsten Monat gehen nach dem Willen der Regierung 40 Prozent der RichterInnen des Obersten Gerichts in Rente. Wer bleiben will, muss auf die Gnade des Staatspräsidenten hoffen. Nach der Nachwahl sind insgesamt rund 60 Prozent der obersten Richter neu.
Hat die EU darauf eine Antwort? Bisher nicht. Das laufende Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags ist im politischen Sande verlaufen. Vielversprechender sind aktuelle Forderungen nach Einschaltung des Europäischen Gerichtshofs. Das wäre ein guter Weg, um zweierlei zu erreichen: den Umgang mit den Veränderungen in Warschau zu entpolitisieren und zugleich zu entmoralisieren. Beides wäre von Vorteil.
Das Entpolitisieren ist besonders deshalb wichtig, weil die Reformen keine abstrakt-politischen, sondern konkret-juristische Auswirkungen haben – vom Europäischen Haftbefehl bis zu der Frage, ob Polen noch als sicherer Erstaufnahmestaat für Flüchtlinge gelten kann. Das irische High Court verweigerte im März die Auslieferung eines Beschuldigten an Polen: Die Rechtsstaatlichkeit in Polen sei im Zuge der Reformen „nicht nur hypothetisch, sondern real und ziemlich systematisch“ bedroht, ein faires Verfahren nicht gewährleistet.
Polen als „unvollendete Europäer“
Zum anderen würde die Verlagerung der Auseinandersetzung auf die juristische Ebene eine willkommene Versachlichung des Umgangs mit der polnischen Gesellschaft bedeuten. Viel zu oft schauen wir Deutschen auf Polen als „unvollendete Europäer“ herab. Allzu bereitwillig sprechen wir den Polen ab, was wir uns in eigener moralischer Überhöhung gerne attestieren: „die echten“ Europäer zu sein. Doch wissen wir selbst, wo die echten europäischen Werte anfangen oder enden? Bei großzügiger Flüchtlingspolitik? Bei fortschrittlichen Klimaschutzregelungen? Seit wann endet Europa dort, wo es für die meisten Deutschen nicht mehr moralisch verträglich ist?
Nein, Ausgangspunkt unserer Auseinandersetzung müssen, gerade in Krisenzeiten, Solidarität und Respekt vor Polen als gleichberechtigtem Mitglied der EU sein. Der Kern unserer nicht verhandelbaren Gemeinsamkeiten ist kleiner, aber eben auch konkreter als „europäische Werte“. Das sind Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechte – keine moralischen, sondern rechtliche Kategorien. Und im Grunde nichts anderes als das, wofür Solidarność einmal in Mittelosteuropa stand.
Dafür und für die überwiegende Mehrheit der Polen – von Suwałki bis Krakau –, die sich nach neusten Umfragen im Gegensatz zu uns Deutschen als Europäer betrachten, lohnt es sich zu streiten. Nicht in Form von Belehrungen und Dominanz, aber sachlich und konkret.
Am besten vor Gericht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Umgang mit nervigen Bannern
Bundesrat billigt neue Regeln für Cookies