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Debatte Flüchtlingspolitik in der EUSpurenelemente des Asylrechts

Christian Jakob
Kommentar von Christian Jakob

Nicht nur der Brexit bedroht die EU, sondern auch die Uneinigkeit beim Thema Migration. Das Offshore-Asylverfahren ist keine Lösung.

Warten in einer Flüchtlingsunterkunft: Die EU-Staaten gehen sehr unterschiedlich mit Flüchtlingen um Foto: dpa

D a gibt es die erodierende Freizügigkeit: Am letzten Freitag begann Polen, seine Grenzen wieder zu kontrollieren. Erst im Mai hatten Deutschland, Schweden, Norwegen, Dänemark und Österreich die Erlaubnis bekommen, ihre Grenzkontrollen bis Ende des Jahres zu verlängern. Die EU-Kommission, Hüterin der Schengen-Verträge, hatte vergeblich darauf gedrängt, die im Herbst letzten Jahres ausgesetzte Freizügigkeit wiederherzustellen.

Und Österreich hat nun erklärt, seine Grenzen so lange geschlossen zu halten, bis die EU eine „europäische Lösung“ für das Flüchtlingsproblem gefunden hat. Was nach Lage der Dinge wohl heißen soll: bis keine Flüchtlinge mehr nach Österreich kommen. Schengen, das Herzstück der Einigung, zerbröselt.

Dann gibt es das ungelöste Verteilungsproblem. Nach wie vor kommen viele Menschen vor allem in Italien an. Aber die immer wieder versprochene Entlastung der Staaten an den EU-Außengrenzen ist ein Witz: Gerade mal 2.000 der im letzten Sommer beschlossenen 160.000 Flüchtlinge wurden bislang Italien und Griechenland abgenommen.

Beim Europäischen Gerichtshof liegen Klagen von Slowenien und Ungarn gegen die Verteilung. Und direkt beliebter dürfte das Vorhaben auch nicht geworden sein, als die EU-Kommission im Mai für Staaten, die nicht bei der Umverteilung mitmachen, ein 250.000-Euro-Bußgeld vorschlug – pro nicht aufgenommenem Flüchtling, wohlgemerkt.

Fliehkräfte bei Migrationsfragen

Am Dienstag nun entschied Ungarns Präsident János Áder, im Oktober eine Volksabstimmung über die europäische Flüchtlingsverteilung abzuhalten. Was in anderen Zeiten womöglich als Akt direkter Demokratie durchgegangen wäre, bekommt jetzt, aufgeladen mit dem unverdauten Brexit-Votum, den düsteren Charakter einer symbolischen Abstimmung über die EU insgesamt. Die Fliehkräfte, die die Migrationsfrage auf Europa ausübt, sind enorm.

Jahrelang hat die EU die Ungerechtigkeiten, die das Dublin-System hervorbringt, ignoriert. Dann versuchte sie mit Zwangsmaßnahmen dessen schlimmste Folgen einzudämmen. Jetzt ist die Lage dafür noch schlechter als zuvor. Viele fordern als Reaktion auf den Brexit, den Nationalstaaten Kompetenzen zurückzugeben. Das würde die Aussicht auf eine europäische Flüchtlingspolitik völlig zunichtemachen und die EU deshalb noch mehr schwächen.

Auf der anderen Seite des Mittelmeers ist das europäische Recht nur Papier

Die Folgen würden auch die Flüchtlinge selber zu spüren bekommen. Mehr Nationalstaatlichkeit heißt für sie weniger Rechte. Die Harmonisierung von Asyl- und Migrationsrecht steht seit Langem auf der EU-Agenda. Umgesetzt wurde sie nie. Das Problem dabei war immer dasselbe: Jeder Staat hat ein anderes Asylrecht, und die Nationalstaaten hatten zu viel Raum, um das Wenige, was europäisch geregelt war, zu hintertreiben. Die EU hatte nichts zu bieten, um sie zur Geschlossenheit zu bringen.

Keine neuen Anreize für Flüchtlinge

Das 2013 beschlossene Gemeinsame Europäische Asylsystem CEAS sollte dafür sorgen, dass alle Staaten Europas Flüchtlinge ähnlich behandeln. So sollte die Schieflage zwischen den Staaten im Süden und jenen im Zentrum ausgeglichen werden. Doch fast alle Staaten ignorierten die neuen Regeln. Niemand wollte neue „Anreize“ für Flüchtlinge schaffen. Und die Kommission vermochte nichts dagegen zu tun.

Das ist bis heute so. Und wer daran etwas ändern will, muss deshalb die Finanzierung mit einschließen: Staaten, die bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen, sollten die dadurch entstehenden Kosten aus Brüssel erstattet bekommen. Per Umlage aller EU-Mitglieder – genau wie im Agrarsektor. Das wäre überzeugender als leere Sanktionsdrohungen oder Appelle. Wahrscheinlich ist es der einzige Weg, Akzeptanz für eine kollektive Lastenteilung zu schaffen. Und wenn diese funktioniert, entfällt automatisch die Notwendigkeit, die Schengen-Freizügigkeit auszusetzen.

Die Kommission aber geht jetzt einen anderen Weg. Letzte Woche legte sie dem Parlament einen Entwurf vor, um nach deutschem Vorbild eine EU-Liste „sicherer Herkunftsländer“ zu schaffen. Ohne ein gemeinsames EU-Asylverfahren aber braucht es eine solche Liste nicht. In absehbarer Zukunft dürfte dies auch nicht eingeführt werden – die dazu fähige Behörde existiert ohnehin nicht. So liegt die Vermutung nahe, dass diese Liste vor allem dazu dienen soll, den Flüchtlingsschutz weiter in die Transitregionen zu verlagern: durch den Aufbau von Asylverfahrenslagern in als sicher gelabelten Staaten wie etwa Tunesien. Dieser Traum vom Offshore-Asylverfahren wird in Berlin und Brüssel seit Langem geträumt.

Rechte nur auf dem Papier

Letzte Woche haben sich an dieser Stelle auch die Kieler Wissenschaftler Toman Barsbai und Sebastian Braun dafür starkgemacht. „Asylbewerber sollten den Antrag grundsätzlich nur noch außerhalb der EU stellen können, (…) Asylanträge innerhalb der EU wären ausnahmslos abzulehnen“, schrieben sie. So könnten nicht nur, wie jetzt, die Stärksten ins sichere Europa gelangen, sondern die Bedürftigsten: Alte, Schwangere, Kranke, Kinder.

Doch auf der anderen Seite des Mittelmeers, weit weg von unabhängigen Anwälten, Menschenrechtsorganisationen und Beratungsstellen, ist das europäische Recht nur Papier. Niemand könnte sich dort auf eine Weise rechtlich Gehör verschaffen, die mit den Möglichkeiten in Europa vergleichbar ist. Was übrig bliebe, wären nichts als Spurenelemente des Asylrechts. Wer reindarf und wer draußen bleibt, wäre restlos dem Belieben der Aufnahmeländer überlassen.

Das Flüchtlingsproblem lässt sich nicht lösen, indem man es nach außen drückt. Genau das hat Europa jahrelang innerhalb der EU versucht. Die Folge waren Chaos in den Ländern Süd- und teils auch Osteuropas und eine Destabilisierung der Gemeinschaft insgesamt. Am Ende sind die Flüchtlinge trotzdem gekommen. Dieses Muster wird sich wiederholen, wenn nun verstärkt auf die Transitstaaten als Barriere gesetzt wird.

Das letzte Jahr hat gezeigt, dass die Freizügigkeit nur dann zu haben ist, wenn sie für alle gilt. Wer sie den Flüchtlingen verweigert, kann sie auch für alle anderen nicht gewährleisten. Die Konsequenz daraus heißt: die Kosten dafür auf eine kollektive Basis zu stellen. Das ist die europäische Lösung.

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Christian Jakob
Reportage & Recherche
Seit 2006 bei der taz, zuerst bei der taz Nord in Bremen, seit 2014 im Ressort Reportage und Recherche. Im Ch. Links Verlag erschien von ihm im September 2023 "Endzeit. Die neue Angst vor dem Untergang und der Kampf um unsere Zukunft". 2022 und 2019 gab er den Atlas der Migration der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit heraus. Zuvor schrieb er "Die Bleibenden", eine Geschichte der Flüchtlingsbewegung, "Diktatoren als Türsteher" (mit Simone Schlindwein) und "Angriff auf Europa" (mit M. Gürgen, P. Hecht. S. am Orde und N. Horaczek); alle erschienen im Ch. Links Verlag. Seit 2018 ist er Autor des Atlas der Zivilgesellschaft von Brot für die Welt. 2020/'21 war er als Stipendiat am Max Planck Institut für Völkerrecht in Heidelberg. Auf Bluesky: chrjkb.bsky.social
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3 Kommentare

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  • "Das letzte Jahr hat gezeigt, dass die Freizügigkeit nur dann zu haben ist, wenn sie für alle gilt. Wer sie den Flüchtlingen verweigert, kann sie auch für alle anderen nicht gewährleisten.

    Die Konsequenz daraus heißt: die Kosten dafür auf eine kollektive Basis zu stellen."

     

    Da wird zunächst implizit eine erweiterte Prämisse verwendet, um dann etwas zu folgern, was dem Autor gerade für seine Agenda zupass kommt.

     

    Freizügigkeit *innerhalb* des Schengen-Raums ist ohne Freizügigkeit in Afrika/MittlererOsten/Europa sehr wohl machbar. Wenn es das ist, was der Autor möchte, sollte er das doch bitte auch sagen, ebenso was dann die resultierenden Kosten wären, die dann auf eine "kollektive Basis" zu stellen wären und wer denn das "Kollektiv" ist, das die Lasten tragen muss, ungefragt.

  • Bitte nicht verwechseln Migration (Wanderarbeiter) und Asyl ist ein allgemeines Menschenrecht! "Die Harmonisierung von Asyl- und Migrationsrecht steht seit Langem auf der EU-Agenda."

    Migration hat in den 50er Jahren dank Ludwig Erhard und die Anwerbung incl. Prämien in Westdeutschland geholfen das Ziel "Wohlstand für Alle" zu erreichen.

     

    Asyl dagegen laut UN Menschenrechts Charta Artikel 14 ist:

    (1) Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen.

    (2) Dieses Recht kann nicht in Anspruch genommen werden im Falle einer Strafverfolgung, die tatsächlich auf Grund von Verbrechen nichtpolitischer Art oder auf Grund von Handlungen erfolgt, die gegen die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen verstoßen.

    Der Grund zur Flucht vor politischen Verhältnissen in seinem Land können alles Mögliche sein. Z.B. Politische Flüchtlinge kann es in folgenden

    14 Politik - Bereichen geben?:

    (die Zahl unserer politischen Ressorts) sind:

    - Wirtschaft und Energie

    - Auswärtiges Amt

    - Innenpolitik

    - Justiz und Verbraucherschutz

    - Finanzen

    - Arbeit und Soziales

    - Ernährung und Landwirtschaft

    - Verteidigung

    - Familie, Senioren, Frauen und Jugend

    - Gesundheit

    - Verkehr und digitale Infrastruktur

    - Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit

    - Bildung und Forschung

    - Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

    Also bitte sorgfältig und individuell prüfen. Sonst begehen wir Menschenrechts Verletzungen!!

  • Aktuell gibt es für "Die Werte-Gemeinschaft Europa" lediglich im Vertrag von Lissabon 2010 den folgenden Artikel 2:

    "Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.

    Diese Werte sind allen Mitgliedsstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet."

    Warum schaffen wir es nicht, uns daran zu halten?

    Allein die Behandlung Griechenlands ist für mich ein Grund zur Scham.

    Günter Grass hat es im Mai 2012 als "Europas Schande" beschrieben - sehr empfehlenswert:

     

    Ein Gedicht von Günter Grass

    Dem Chaos nah, weil dem Markt nicht gerecht,

    bist fern Du dem Land, das die Wiege Dir lieh.

    Was mit der Seele gesucht, gefunden Dir galt,

    wird abgetan nun, unter Schrottwert taxiert.

    Als Schuldner nackt an den Pranger gestellt, leidet ein Land,

    dem Dank zu schulden Dir Redensart war.

    Zur Armut verurteiltes Land, dessen Reichtum

    gepflegt Museen schmückt: von Dir gehütete Beute.

    Die mit der Waffen Gewalt das inselgesegnete Land

    heimgesucht, trugen zur Uniform Hölderlin im Tornister.

    Kaum noch geduldetes Land, dessen Obristen von Dir

    einst als Bündnispartner geduldet wurden.

    Rechtloses Land, dem der Rechthaber Macht

    den Gürtel enger und enger schnallt.

    Dir trotzend trägt Antigone Schwarz und landesweit

    kleidet Trauer das Volk, dessen Gast Du gewesen.

    Außer Landes jedoch hat dem Krösus verwandtes Gefolge

    alles, was gülden glänzt gehortet in Deinen Tresoren.

    Sauf endlich, sauf! schreien der Kommissare Claqueure,

    doch zornig gibt Sokrates Dir den Becher randvoll zurück.

    Verfluchen im Chor, was eigen Dir ist, werden die Götter,

    deren Olymp zu enteignen Dein Wille verlangt.

    Geistlos verkümmern wirst Du ohne das Land,

    dessen Geist Dich, Europa, erdachte.