Debatte Flucht: Lob den Schleusern
Die pauschale Kriminalisierung von Schleppern ist Unsinn. Fluchthilfe leistet für den Asylsuchenden mehr als die Willkommenskultur.
N eulich beim Zappen durch die Talkshows: „Ich bin den Schleppern dankbar“, sagt eine junge Syrerin. Die Fahrt über das Mittelmeer sei ein Albtraum gewesen. Sieben Tage Todesangst. Immer wieder hat sie sich gefragt, nach welchen ihrer beiden Jungs, zwei und fünf Jahre alt, sie greifen wird, sollte der klapprige, überladene Kahn sinken. Aber ohne die Schlepper hätte sie es nicht ins sichere Deutschland geschafft. Sie würde es wieder tun.
Den Schleppern dankbar sein? So einen Satz darf man in Europa derzeit nicht einmal denken. Die EU ist in der Flüchtlingsfrage heillos zerstritten und sie könnte, fürchten viele, an der Krise sogar zerbrechen. Doch in einem Punkt lässt sich immerhin von Rom über Paris und Berlin bis nach London und Budapest noch Konsens erzielen: Die Schlepperkriminalität ist die Wurzel allen Übels und sie zu bekämpfen oberste europäische Priorität.
Nach dieser Logik gäbe es ohne die Schlepper keine Flüchtlinge. Und so ganz falsch ist der Gedanke nicht – zumindest für uns. Deutschland hat keine EU-Außengrenze. Da Flüchtlinge immer dort bleiben müssen, wo sie zuerst europäischen Boden betreten haben, liegt die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland theoretisch bei genau null. Alle, die es dennoch in die Bundesrepublik geschafft haben, brauchten Schlepper. Ohne organisierte Fluchthilfe ist es ganz und gar unmöglich, Deutschland zu erreichen und einen Asylantrag zu stellen.
Die Debatte über die Schlepper und Schleuser rund um die Flüchtlingskrise ist dementsprechend an Scheinheiligkeit kaum zu übertreffen. Wie viele Juden hätten sich wohl vor dem Nazi-Regime retten können, wenn es keine professionellen Schlepper gegeben hätte? Wie viele Künstler und Intellektuelle wären rechtzeitig entkommen? Oder zur Zeit der Sklaverei in den USA: Zehntausende Schwarze wurden mithilfe der „Underground Railroad“ aus dem Süden in den freien Norden der USA geschleust.
Ohne Schlepper keine Flüchtlinge?
Ob ein Schleuser Geld für seine Dienste nimmt, ist dabei nicht entscheidend. Selbst DDR-Fluchthelfer, die später mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurden, verlangten erhebliche Summen. Der damalige Medizinstudent Burkhart Veigel, der ostdeutsche Flüchtlinge noch über die Grenze brachte, als sonst nichts mehr ging, nahm bis zu 8.000 D-Mark. Er hatte für viel Geld unter anderem einen Cadillac umbauen lassen, um im Armaturenbrett Platz für einen Ausreisewilligen zu schaffen. Der Bundesgerichtshof entschied 1977, als Veigel verklagt wurde, es sei nicht anstößig, wenn Geld fließe.
Eine besondere Ironie der Geschichte: einer der ehemaligen DDR-Fluchthelfer, ein syrischer Student namens Muauiah Karman, der vier Jahre im berüchtigten Bautzen wegen „Menschenhandel“ zugebracht hat, sitzt heute im Bombenhagel von Aleppo fest. Ein Visum für Deutschland als Zeichen der Anerkennung? Bisher nicht. Und um Asyl zu beantragen, müsste der heute fast 80-Jährige in Deutschland sein.
Dazu bräuchte der ehemalige Fluchthelfer aus Syrien auf jeden Fall einen guten Schlepper – ein Profi, der weiß, was er tut, und seine Kunden sicher ans gewünschte Ziel bringt. Einen von der Sorte also, die in ganz Europa als die schlimmsten Feinde in der Flüchtlingskrise ausgemacht wurden.
Eine andere Willkommenskultur
Es gibt sie natürlich tatsächlich: gewissenlose Geschäftemacher, denen es egal ist, ob ihre Kunden lebend am Ziel ankommen oder im luftdichten Lastwagen ersticken. Der Profit lockt viele, die schnell reich werden wollen. Wer ein Schlauchboot ohne funktionstüchtigen Motor aus Raffgier überlädt, einem Flüchtling das Steuer in die Hand drückt und nach dem Abkassieren schnell von Bord springt, ist ohne Zweifel kriminell.
Eingesperrt werden aber alle, die die Flucht nach Europa ermöglichen – egal ob es um Landsleute aus dem eigenen Herkunftsdorf geht oder um Fremde, die man über die grüne Grenze schickt. Allein in Bayern sind über 800 Schlepper inhaftiert. Viele davon sind kleine Fische. Sie haben oft einfach nur ein halbes Dutzend Flüchtlinge im Mini-Van über die Grenze gebracht. Ja, sie schmuggelten sie sicher nicht aus Menschlichkeit, sondern für erhebliche Summe. So mancher gehört vielleicht sogar mafiösen Strukturen an. Aber für den einzelnen Flüchtling, der es nach Europa schafft, hat er mehr getan als all jene, die am Münchner Bahnhof stehen und „Refugees welcome“ rufen. Eine Willkommenskultur wäre ohne Schlepper gar nicht möglich.
Die verstärkten Maßnahmen der EU gegen Schlepper haben bisher nur eins bewirkt: Die Flucht ist noch gefährlicher und teurer geworden. Dennoch kommen immer mehr Flüchtlinge. Solange die Grenzen dicht sind und Asyl nur vor Ort beantragt werden kann, so lange wird es Schlepper geben – gute und schlechte. Die europäische Asylpolitik ist eine Arbeitsbeschaffungsprogramm für Schleuser.
Ablenkungsmanöver
Die pauschale Kriminalisierung der Fluchthelfer ist ein bequemes Ablenkungsmanöver. Die Politik suggeriert den Wählern: Schaut her, wir tun etwas, denn die skrupellose Schlepperbanden sind schuld am Elend der Flüchtlinge und unserer Überlastung. Der Aktionismus rund um das Schleusergeschäft überdeckt aber nur, wie hilflos Europa der Völkerwanderung gegenübersteht. Die Fluchtursachen zu bekämpfen ist nahezu aussichtslos. In Afghanistan hat der Westen sich viele Jahre militärisch engagiert, Milliarden an Entwicklungshilfe sind geflossen, und dennoch ist weder die Befriedung noch der Wiederaufbau gelungen. Heute machen sich mehr Afghanen auf den Weg nach Europa denn je. Deutlicher könnte das Land nicht über den Erfolg der internationalen Hilfe urteilen.
Wir sollten uns deshalb keine Illusionen machen: Nicht die Schlepper treiben so viele Menschen in die Flucht. Sie sind es nicht, die verhindern, dass Flüchtlinge auf legalem Weg nach Europa kommen können. Die Bootsfahrt über das Meer wird nicht sicherer, wenn die Asylsuchenden sich selbst organisieren, statt sich einem Schleuserring anzuvertrauen. Schlepper haben viele Tote zu verantworten. Aber sie haben auch sehr vielen Menschen geholfen, in Europa anzukommen.
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