Debatte Doktortitel: Das Guttenberg-Syndrom
Die Promotion ist längst zur Farce geworden. Und wer Karriere machen will, braucht den Doktortitel nicht. Warum schafft man ihn nicht ab?
E s gibt Leute, die beinahe schon als Chef, Leiter oder Vorstand zur Welt kommen: Menschen, die bereits nach wenigen Monaten Berufserfahrung zum Chefredakteur aufsteigen oder sofort irgendetwas leiten: eine Abteilung, ein Ressort, ein Ministerium oder am besten den ganzen Konzern.
Man sieht es ihnen auf den ersten Blick an, dass ihr Weg direkt nach oben führt. Egal welche Schnitzer sie sich erlauben, welche handwerklichen Fehler und Mängel: Jeder Flop führt sie einen Schritt weiter - mit oder ohne Doktortitel.
Auch in den Medienbetrieben findet man sie. Deutschlands mächtigster Medienboss etwa, der Bild-Zeitungs-Chef Kai Diekmann, konnte es sich sogar erlauben, sein Studium abzubrechen. Der akademische Abbruch, der einem sonst gern als mangelndes Durchhaltevermögen ausgelegt wird und die Berufschancen fast in Richtung Hartz VI mindert, bildete bei Diekmann den Start in eine wunderbare Karriere. Schon vier Jahre nach dem Beginn seiner Ausbildung trug er den Titel "Chefreporter". Auch die Mehrheit der Vorstände in den DAX-Unternehmen hat es zu keiner Doktorwürde geschafft, dafür aber an die Spitze der Macht.
Wer den Doktor noch braucht
Niedergelassene Ärzte können mit oder ohne Titel viel oder wenig Geld verdienen. Die Doktorwürde ist dort das Relikt einer Standestradition und mit einem wissenschaftlichen Aufwand, der dem einer Bachelorarbeit ähnelt, zu erlangen. Naturwissenschaftler promovieren, wenn sie in der Forschung arbeiten wollen. Bei den Anwälten der großen Wirtschaftskanzleien gilt der Dr. auf der Visitenkarte als Ausweis ihrer Milieuzugehörigkeit. Die Global Player der Unternehmensberater schmücken sich noch gern mit dem Titel, um die Macht ihres Wissens zu demonstrieren.
Für die üblichen Jobs in der urbanen "Wissensgesellschaft" ist allzu tiefgründiges Wissen eher ein Hindernis. Hier zählen Flexibilität und schnelle Wendigkeit. "Organisationen, in denen Inhalte sich ständig ändern, erfordern mobile Problemlösungsfähigkeiten. Das Bestreben, sich sehr intensiv mit einem Problem zu beschäftigen, wäre dysfunktional, da Projekte ebenso abrupt enden, wie sie beginnen", schreibt der US-Soziologe Richard Sennett in seiner Zeitdiagnose "Die Kultur des neuen Kapitalismus".
Gemäß dieser Kultur sind die deutschen Universitäten im vergangenen Jahrzehnt zu Fachschulen für instrumentelle Bildung umgestaltet worden. Der Bachelor als Regelabschluss passt haargenau ins postfordistische Getriebe der kurzen Produktionszyklen: griffige Formeln, knappe Merksätze. Der Powerpoint-Vortrag ersetzt die zähe Lektüre der Klassikertexte. "Das postmoderne Wissen", von dem Jean-François Lyotard schon 1979 sprach, zerfällt in Module und wird in Form von Credit Points austauschbar bis beliebig.
Antiquierter Bildungsfetisch
Für die Berufspraxis des heutigen Akademikers genügt dies. Denn betriebliches Handeln wird nicht nur in der Produktion, sondern inzwischen auch in den Humandienstleistungen durch Manuals und sogenannte Qualitätshandbücher standardisiert. Die Lektüre der Originale - wie beispielsweise der Schriften der beiden oben zitierten Autoren, Sennett und Lyotard - hat daher auch in der universitären Forschung längst ausgedient.
Die Drittmittelforschungen in den Sozialwissenschaften müssen auf etablierten Methoden basieren und zu quantifizierbaren Ergebnissen führen. Eine Durchdringung des Gegenstands erscheint oft nebensächlich - und vor allem ineffizient. Der Forscher wird austauschbar, da er ohnehin standardisierte Formeln auf die jeweilige Problemstellung anwendet. Die kurzen Zyklen der Drittmittelbewilligungen limitieren die Bewegungen des Geistes. Im harten Konkurrenzkampf um die befristeten Stellen wird die wissenschaftliche Erkenntnis zum Mittel für den Zweck.
ist freier Journalist in Hamburg. Er hat an der Uni Lüneburg in der Behindertenpädagogik promoviert und im besetzten Hamburger Gängeviertel das integrative Kulturprojekt "Möglichkeitsräume" gegründet.
Der Doktortitel entstammt einer ganz anderen Zeit. Er wurde im 13. Jahrhundert in Bologna erfunden, als die Wissenschaft noch einem winzig kleinen, elitären Zirkel vorbehalten war. Die Massenuni seit den 1970er Jahren führte zwar zu einer gewissen Chancengerechtigkeit, aber auch zu einer Fetischisierung von Abschlüssen und Titeln. Je mehr sie in Umlauf gerieten, desto wertloser wurden sie.
In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Zahl der Promotionsabschlüsse verdoppelt und lag 2009 bei über 25.000. Der Doktor-Fetisch ist in diesem Lande so mächtig wie in keinem anderen, und doch anachronistisch. Als eine Farce wird die Promotion nicht nur durch den Fund von Plagiaten entlarvt, sondern auch durch jene zahlreichen Arbeiten, die aus endlos zusammengereihten, aber korrekt nachgewiesenen Zitaten bestehen.
Mitschuld der Doktorväter
Die Doktorväter tragen daran eine gehörige Mitschuld. Statt mit Genie und Originalität zu glänzen, wetteifern sie selbst um die Anzahl ihrer Veröffentlichungen in den Fachzeitschriften mit den höchsten Impact-Faktoren (die, die am meisten zitiert werden). Neues findet man darin selten. Alte Thesen und Ergebnisse werden permanent umgeschrieben und neu verpackt: Output-Optimierung ersetzt Qualität. Das Plagiat ist der Offenbarungseid jener Uni, die sich der Industrie längst angeglichen hat.
Den Doktor abzuschaffen wäre nur konsequent. Mit ihm ginge jedoch die typisch deutsche Ideologie von der Autonomie des Geistes verloren, die trotz ihrer Unwahrheit einen Funken an Utopie enthält. Um die Promotion für jene Studenten zu retten, die tatsächlich aus Leidenschaft und ehrlichem Erkenntnisdrang lernen und forschen wollen, wäre neben der neuen Bologna-Uni eine zweite, komplementäre Bildungsinstitution notwendig.
Das sollte dann eine freie Möglichkeits-Uni sein, die von der bürokratischen Last der vielen Prüfungen, Zertifizierungen und Evaluierungen frei bleibt und dafür Angebote und Unterstützung, anregende Diskussionen sowie Zeit zur freien Lektüre bietet.
Auf Wettbewerbsfähigkeit und unmittelbare "Praxisorientierung", wie sie die Wirtschaft vorgibt, muss darin verzichtet werden. Nur als Kulturgut wie ein geschütztes Denkmal, das schließlich seinen Wert hat, hat der Doktor eine Zukunft. Wer Karriere machen will, braucht ihn ohnehin nicht.
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