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Debatte BayernDer Sauhaufen muss größer werden

Ambros Waibel
Kommentar von Ambros Waibel

München wird grün, aber das kümmert den Bayern-Boss nicht. Gegen die Provos der CSU werden die Grünen eine Taktik entwickeln müssen.

Bayern ist nicht schwarz, nicht grün, sondern bunt, sagt die famose „Sauhaufentheorie“ Foto: Ricardo Viana/ unsplash

E rwartungsgemäß ließ Söder die Sondierungsgespräche mit den Grünen ins Leere laufen. Stattdessen verständigte er sich mit den Freien Wählern auf Koalitionsverhandlungen. Dass Söder diese Konstellation, die er am Wahlabend „Bürgerliche Koalition“ genannt hatte, nun „Bayern-Koalition“ taufte, lässt darauf schließen, dass er, vom Wahlergebnis angestoßen, noch nach der griffigsten Formulierung sucht – beziehungsweise, dass doppelt eben immer besser hält: Ist doch beiden Benennungen gemeinsam, dass sie den Wahlsieger vom vergangenen Sonntag, die Grünen, abwerten sollen: als erstens unbürgerlich und zweitens unbayerisch.

Gerade Letzteres ist eine uralte Waffe aus dem Arsenal der Christsozialen, auf die ihr früherer Gegner, die SPD, mit dem hilflosen Mut des Angezweifelten reagierte und sich „BayernSPD“ nannte. Das Ergebnis ist bekannt. Die SPD repräsentiert im Freistaat nicht mehr viel mehr als diejenigen, deren Posten am Parteiticket hängen; und dass die „BayernSPD“ damit wohl nur das Schicksal ihrer Genossen in anderen Ländern und im Bund vorwegnimmt, ist ein schwacher Trost.

Vertreten die Sozialdemokraten also nur mehr sich selbst, so müssen die Grünen noch eine Antwort finden auf Söders charakterlich-politische Grundverfassung – seine „Schmutzeleien“, wie sie Parteifreund Horst Seehofer in monatelangem Nahkampf herausgearbeitet hat. Die Grünen werden eine Taktik entwickeln müssen, wie sie mit den Provokationen der verunsicherten Schulfhofschlägerclique von der CSU umgehen.

Sachthemen oder Bayerischsein?

Sollen sie lauthals ihre Bayerisch- und Bürgerlichkeit beteuern und trotzdem auf’s Maul kriegen? Sollen sie sich taub stellen und auf die scheinbar unideologischen „Sachthemen“ konzentrieren, wo doch das Sich-kümmern-Wollen um eben diese den Markenkern der Freien Wähler ausmacht? Oder sollen sie diese Begriffe lässig nicht mal ignorieren, das Menschliche über das vermeintlich Bayerische stellen und das Soziale über das Besitzbürgerliche?

Weiten wir mal den Blick. Wer sich als Individuum ernst nimmt, wird sein Leben als das Projekt verstehen, sie und er selbst zu bleiben (beziehungsweise: zu werden), in einer Welt, die eben das beharrlich zu verhindern sucht. Wer Politik macht, muss geschmeidig sein, wach für seine Entwicklungen – und für mögliche Bündnisse.

taz am wochenende

Kein Name ist so belastet wie dieser. Wer heißt heute noch „Adolf“? Wir haben vier Männer unterschiedlichen Alters gefragt, wie dieser Vorname ihr Leben prägt – in der taz am wochenende vom 20./21. Oktober. Außerdem: Ein Regisseur will mit Theater heilen und probiert das jetzt in Sachsen. Eine Pomologin erklärt, wie sich alte und neue Apfelsorten unterscheiden. Und Neneh Cherry spricht über ihr neues Album. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Von dem leider ziemlich vergessenen Dichter Richard Leising stammen die schönen Verse: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein / Aber es muss da sein.“ Nur wer Antworten auf die Alltagsprobleme der Mehrheit gibt, kann ihren Blick weiten, auf die Fragen der Zukunft – und die darf man, beim Klimawandel angefangen, vielleicht durchaus einmal düster skizzieren:

Der New Yorker wies kürzlich darauf hin, dass die nächste Finanzkrise nicht mehr lange auf sich warten lassen wird – und diesmal seien wir noch schlechter vorbereitet als 2008. Die Diskussion um Bürgerrechte einschränkende Polizeigesetze sowie die Rolle des Verfassungsschutzes im NSU- und AfD-Komplex bekommen eine ganz andere Qualität, wenn wir uns in eine Situation hineindenken, in der die deutsche Exportmaschine an ihre schon heute absehbaren Grenzen stößt und gesellschaftliche Verteilungskämpfe über die Frage der paritätischen Finanzierung in der gesetzlichen Krankenversicherung hinausgehen.

Schützt Bürgerlichkeit die Lebensgrundlagen?

Dem italienischen Magazin L’Espresso hat die grüne Spitzenkandidatin Katharina Schulze im Interview nach der Wahl gesagt, Bayern sei ein reiches Land mit niedriger Arbeitslosigkeit, in dem ständig Arbeitskräfte gesucht würden und in dem man sich also eine migrationsfreundliche Haltung leisten könne. Was aber wird sein, wenn sich die wirtschaftlichen Parameter einmal ändern? Was wird man sich dann noch leisten wollen?

Keine Angst, das Horrorkabinett ist wieder geschlossen. Aber wenn wir über den Begriff der Bürgerlichkeit nachdenken, dann müssen wir seine Untiefen ausloten. Wir müssen fragen, ob bürgerliche Freiheit bedeutet, dass, bayerisch gesprochen, die Grattler halt schauen sollen, wo sie bleiben – nämlich drunten.

Oder ob Bürgerlichkeit, durchaus auch als Form der Herrschaft, noch mehr ist als wegbeißende Besitzstandswahrung: Ob sie ernsthaft die Lebensgrundlagen schützt; ob sie für eine Gesellschaft kämpft, die das Privileg, auf der nichttödlichen Seite des Mittelmeeres geboren zu sein, nicht mit Zäunen, Internierungslagern und Kriegsschiffen verteidigt, sondern allen Menschen die Chance gibt, aus ihrem Leben etwas zu machen. Oder wenigstens: zu überleben.

„Du hast keine Chance, nutze sie!“

Ich muss sagen, ich bezweifle, dass das bürgerliche Projekt, das mal mit einem Herrn Faust angetreten ist, um mit unerschöpflicher Neugierde und Energie herauszufinden, was die Welt im Innersten zusammenhält, seiner globalen Verantwortung gerecht werden wird. Ich bin aber auch skeptisch gegenüber allen linken Versuchen, ein zwangsläufig idealisiertes politisches Gegen-Subjekt – ob nun einst die Arbeiterklasse oder heute etwa den Migranten – zum Retter auszurufen.

Die Zukunft war früher eben auch besser, wusste schon Karl Valentin. Halten wir’s also gegenwärtig – und bis auf Weiteres mit dem Dichter Herbert Achternbusch: „Du hast keine Chance, aber nutze sie!“ Ich habe mich jedenfalls sehr gefreut, als meine Geburtsstadt München sich in den Grafiken am Wahlabend zunehmend grün färbte, und ich habe einen riesigen Respekt vor den Menschen, die durch ihr Engagement dazu beigetragen haben.

Und ich finde es vorsintflutlich, dass ein Drittel der Bevölkerung der bayrischen Landeshauptstadt nicht seinen Teil zum Ergebnis hat beisteuern können, weil es ohne deutschen Pass nicht wahlberechtigt ist.

Daran etwas zu ändern, wäre doch ein schönes Projekt für eine moderne bürgerliche Partei. In der großen Berliner Archäologieausstellung „Bewegte Zeiten“ kann man derzeit – dem bayerischen Flächenfraß sei Dank – aus spätantiken Gräbern geborgene, nach hunnischer Mode künstlich in die Länge gezogene Frauenköpfe bestaunen. Bayern, lernt man ausgerechnet in Berlin, ist mehr als ein Einwanderungsland – es ist ein von Einwanderern aus allen Winkeln der Erde gegründetes Land.

Die Wissenschaft hat das mit dem Begriff der „Sauhaufentheorie“ gefasst. Wir, liebe Restdeutsche, waren nämlich immer schon viele – und werden irgendwann schon auch noch mal mehr als 17 Prozent.

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Ambros Waibel
taz2-Redakteur
Geboren 1968 in München, seit 2008 Redakteur der taz. Er arbeitet im Ressort taz2: Gesellschaft&Medien und schreibt insbesondere über Italien, Bayern, Antike, Organisierte Kriminalität und Schöne Literatur.
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1 Kommentar

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  • Ich hatte am Tag nach der Wahl im Autoradio Bayern 5 an und konnte da ein Interview mit Katharina Schulze verfolgen. Zusammengefasst hatte ich nicht Eindruck, dass es für Frau Schulze überhaupt eine realistische Option war mit der CSU eine Koalition zu bilden. Klar hat sie gesagt, dass man grundsätzlich Gesprächsbereit sei. Aber ihr war zu diesem Zeitpunkt wohl klar, dass die Freien Wähler das rennen machen und ich hatte nicht den Eindruck, dass sie sich daran ernsthaft stört.

    Wollten die Grünen eigene Ziele umsetzen, hätten sie mit der CSU zu einigen Bereichen Kompromisse finden müssen und dazu waren sie offenkundig nicht bereit.

    Kurz und knapp ich hatte bei diesem Interview zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, dass die wirklich mit regieren wollen. Was ich ausgesprochen Schade finde, denn Schwarz-Grün halte ich für eine sehr spannende Konstellation!