piwik no script img

Debatte Aufstand in SyrienMorgen ist es zu spät

Wenn der Westen uns jetzt nicht hilft, dann haben wir gegen die Islamisten keine Chance. Ein Aufruf eines syrischen Oppositionellen.

„Nicht ein einziger Tag verging ohne Tote, mal sind es zwei oder drei, dann neun, an einem anderen Tag 28, am nächsten wieder 11“ Bild: reuters

V or drei Monaten habe ich Damaskus verlassen. Das Leben dort wurde zu schwierig, also ging ich in die „befreiten“ Gebiete in Ost-Gouta. Vor den Aufständen lebten hier zwei Millionen Einwohner, jetzt dürften es noch eine Million sein. Hier war die Basis für die Rebellen, um in die Hauptstadt vorzudringen, doch inzwischen ist die Gegend dank der neuerlichen Unterstützung durch Russland, Iran und die Ankunft der vom Iran finanzierten irakischen und libanesischen Milizen unter der Kontrolle des Regimes. (…)

Die Städte, die ich gesehen oder in denen ich während der letzten Monate gelebt habe, sind täglich Luftangriffen ausgesetzt. Jeden Tag schlagen hier Granaten und Raketen ein und sterben Menschen, meist Zivilisten. (…) Nicht ein einziger Tag verging ohne Tote, mal sind es zwei oder drei, dann neun, an einem anderen Tag 28, am nächsten wieder 11. (…) Auch Kämpfer werden jeden Tag getötet.

Bloß keine Versammlungen

Archiv

ist ein oppositioneller syrischer Journalist und Schriftsteller. Über 16 Jahre (1980 bis 1996) war er als politischer Gefangener inhaftiert. Danach lebte er in Damaskus und ging bei Beginn der Aufstände in den Untergrund, um einer weiteren Verhaftung zu entgehen. Saleh ist auch für die jüngere Generation der Rebellen eine der zentralen Identifikationsfiguren. Der studierte Mediziner schreibt für Publikationen außerhalb Syriens, darunter al-Hayat, eine panarabische Zeitung, die in London erscheint. Er kann Syrien nicht verlassen, da ihm der Reisepass entzogen wurde.

Die letzten acht Monate war die gesamte Region ohne Strom. Die Leute sind abhängig von Generatoren, die leicht kaputtgehen, viel Benzin verbrauchen, das immer knapper wird. Trotz glühender Hitze bleiben die Kühlschränke abgeschaltet.

Während der ersten Tage fiel mir auf, dass die Freitagsgebete bereits um 9 Uhr morgen in der einen Moschee, eine halbe Stunde später in einer anderen stattfinden, und so weiter, immer mit einer halben Stunde Verschiebung. Man wollte größere Versammlungen verhindern, um dem Regime keine Gelegenheit zu geben, viele Menschen auf einen Schlag zu töten. In einer anderen Stadt hatte es bereits fünf Moscheen bombardiert.

Dokumentation

Die taz sprach zu Beginn der Aufstände 2011 mit dem Autor. Das Interview zeigt, von welchen Hoffnungen die Revolution einst getragen war - und wie verzweifelt die Lage jetzt ist.

Schmerzhafter ist, dass zwei Drittel der Kinder nicht zur Schule gehen können. Sei es, weil ihre Eltern sie aus Angst nicht aus den Augen lassen wollen oder kaum noch Schulen erreichbar sind. Die wenigen, in denen noch unterrichtet wird, finden sich in Kellern, um der Bombardierung zu entgehen, genauso wie die ein oder andere Krankenstation.

Die Leute hier kämpfen mit absoluter Entschlossenheit, denn sie wissen, dass sie ein großes Massaker erwartet, wenn das Regime die Kontrolle über die Region gewinnt. Die, die nicht getötet wurden, würden sofort verhaftet und massiv gefoltert. Die Wahl, die die Leute haben: Entweder sie widerstehen sie den Angriffen dieses faschistischen Regimes oder sie werden von ebendiesem auf grausame Weise ermordet. Bei dem Gedanken, das Regime könnte wieder regieren, zittern die Leute vor Angst, genauso wie ich vor Angst zittere.

Assads Verbündete handeln, der Westen bleibt passiv

Die gegenwärtige Situation ist das unmittelbare Ergebnis des Unwillens der Supermächte, die syrischen Revolutionäre zu unterstützen. Indessen haben die Verbündete des Regimes dieses nicht nur ununterbrochen mit Geld, Männern und Waffen versorgt, sondern die Unterstützung qualitativ und quantitativ sogar hochgefahren.

Nachdem die Welt es endlich als erwiesen ansah, dass das Regime chemische Waffen eingesetzt hat (ich selbst habe das gemeinsam mit entsprechend ausgebildeten Freunden dokumentiert), und nachdem im Zuge dieser Festellung das Regime rückversichert wurde, es könne zwar kein Gas, aber weiterhin die Luftwaffe und Langstreckenraketen einsetzen gegen Städte und Wohngebiete – nach alldem hat der Westen entschieden, die Rebellen mit Waffen zu versorgen, um die „Balance“ wieder herzustellen. Deren Irritation haben sie jedoch selbst mit ihrer Passivität erleichtert.

Die Politik ist nicht nur kurzsichtig und verlängert den Konflikt, sie ist zutiefst unmenschlich. Es gibt keine gleichgewichtigen Bösen in Syrien – so wie es die Mehrheit der westlichen Medien behauptet, im Kontrast zu den Berichten der UN und anderer internationaler Organisationen. Es gibt nur ein faschistisches Regime, das bereits mehr als 100.000 Syrer getötet hat, auf der einen Seite, und auf der anderen diverse revolutionäre Gruppen, von denen manche sich im Laufe des anhaltenden Konflikts radikalisiert haben. Und der Widerstand der syrischen Gesellschaft gegen diese Radikalisierung wird schwächer.

Je länger die Syrer alleine gelassen werden und je mehr sterben, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass die radikalen Gruppen an Stärke gewinnen und die Stimmen der Vernunft und des Ausgleichs an Einfluss verlieren. Genau das passiert im Moment. Wann immer es neue Opfer gibt, besonders wenn es sich um Kinder handelt, sehen mich die Leute mit prüfenden Augen an. Sie fragen sich, welchen Wert die „vernünftige“ Sprache noch hat, die ich spreche.

Es sind Faschisten am Werk

Von einem syrischen und menschlichen Standpunkt aus gesehen, gibt esnur eines zu tun: Helft den Syrern sich von der Dynastie Assads zu befreien, die das Land als Beute und die Bevölkerung als Diener begreift. Nichts wird einfach sein in Syrien nach Assad, aber ihn zu abzusetzen wird eine moderatere Dynamik in der Gesellschaft in Gang setzen und Syrern ermöglichen, gegen radikalisierte Landsleute Widerstand zu leisten. Das ist besser, als den Konflikt einfach weiter eskalieren zu lassen und dabei zuzusehen, wie Syrer von russischen Waffen getötet werden, die in den Händen von lokalen, libanesischen und iranischen Mördern liegen. Es ist auch weniger schlimm, als ein Abkommen zu erzwingen, das die Kriminellen unbestraft und die Probleme in Syrien ungelöst lässt.

US-amerikanische und westliche Politiker haben oft darauf bestanden, dass es keine militärische Lösung für Syrien geben kann. Aber wo ist die politische Lösung? Wann hat Baschar Assad in den letzten 28 Monaten und nach über 100.000 Toten ernsthafte Verhandlungen angeboten und sich bereit gezeigt, die Macht zu teilen? Die Wahrheit ist, es wird keine politische Lösung geben, solange Assad nicht zum Rücktritt gezwungen wird und mit ihm die Meister des Todes in seinem Regime.

Liebe Freunde, ich wende mich heute an Sie, weil die syrische Tragödie sich zu einem der größten und gefährlichsten Probleme in der Welt ausgeweitet. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung sind auf der Flucht, innerhalb und außerhalb des Landes, Hunderttausende sind verletzt oder kriegsversehrt, und etwa 250.000 Menschen werden in den Gefängnissen auf unvorstellbare Weise gefoltert.

Als Meinungsmacher in Ihren Ländern flehen wir Sie an: Üben Sie Druck auf Ihre Regierungen aus, damit Assad zurücktreten muss und das Regime fällt. Das ist die einzige humane und progressive Sache, die es zu tun gilt. Denn nichts ist reaktionärer in der Welt von heute als ein Regime, das die „eigene“ Bevölkerung ermordet, Mörder und Söldner aus dem Ausland importiert, um einen sektiererischen Krieg zu führen, der nicht enden wird, bevor weitere Hunderttausend Menschen gestorben sind.

Wir brauchen Ihre Unterstützung jetzt. Morgen ist es vielleicht zu spät.

Der Aufruf erschien bereits im Guardian, in Le Monde, an-Nahar und El Mundo.

Übersetzung aus dem Englischen: Ines Kappert

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

11 Kommentare

 / 
  • FV
    Freiheit vom Assadclan

    Unerträglich, wie die Leute hier jegliche Wahrnehmung der Realität verweigern:

     

    das Assad-Regime kam 1970 durch Putsch an die Macht, es gab immer wieder erneuten Widerstand, es ist ein faschistisches Terrorregime.

     

    Thomas Dreger berichetete 1991 von einem ruhigen Lebensabend für einen NS-Verbrecher Alois Brunner in Damaskus.

     

     

     

    Das Regime hat bisher jeden Protest mit brutaler Gewalt beseitigt und vernichtet.

     

    Dagegen ist Widerstand legitim. Jeder Mensch hat ein Selbstverteidigungsrecht!

     

    Es gibt in Syrien das Problem der politischen Kultur, aber das kann nicht einfach ein Todesurteil sein. Es gibt auch Linke, die sich am Aufstand beteiligen!

  • HS
    Hari Seldon

    @bartleby:

     

     

     

    Glauben Sie oder nicht (darüber wird in TAZ und in den Mainstream-Medien natürlich nicht berichtet), es gab Wahlen in Syrien, und die Teilnahmequote war über 60% (in Deutschland können wir davon nur träumen). Interessanterweise konnte Assad ca. 70% der Stimmen holen. Sogar ein UN-Bericht vor ca. einem Jahr festgestellt hat, dass Assad über 60% Unterstützung aus der Bevölkerung hat. Assad wurde als Präsident GEWÄHLT (wann gab es Wahlen in den sooo demokratischen "Öldemokratien"?). Falls Sie jetzt Assad als "Diktator" benennen, dann bitteschön, was wäre ein MP mit 24% Unterstützung (wie der Altkommunist Kretschmann in BaWü)? Das Hauptproblem der Opposition ist, dass die überhaupt keine Mehrheit in der Bevölkerung haben, und deswegen will die Opposition keine Wahlen. Ich habe seit ca. 10 Jahren Kollegen aus Syrien, und die erzählen über ein ganz anderes Bild als in TAZ oder in den Mainstream-Medien. TAZ wäre sehr gut beraten, wenn nicht nur die durch dpa/CNN/BBC, usw. manipulierten und vorgegeben Infos nachplappern, sondern mit eigem Kopf Gedanken machen würde. Interessanterweise ist die Assad-Regime (Baath-Partei) eine linksoriente Regierung, und man ist überrascht, dass in einer linksorientierten Zeitung wie TAZ Neokolonialismus pur mit Medienfläche unterstützt wird.

  • H
    Hans

    Die Darstellung ist eine Aufforderung an den Westen, den 'Rebellen' vor allem Waffen zu liefern und dazu neue Regelungen zu benutzen, denn die Ost-Ghuta kann man nicht so einfach mit Waffen versorgen, wie etwa Aleppo oder Orte an der Grenze zu Jordanien. Der Autor fordert aber auch ziemlich unverfroren, dass der Westen ohne Plan und ohne Ahnung, was am Ende dabei rauskommt, in diesen Krieg zieht. Dies wird der Westen nicht tun, weil er gute Gründe hat. Zwar meint der Autor, dass Bashar al-Assad ein Faschist, also ein Herrscher auf dem Niveau von Mussolini oder Hitler sei, wissenschaftlich wird Assad als klassischer autoritärer Herrscher betrachtet.

     

    Und das ist ja auch was dran, denn Assad liess immer einen beschränkten Pluralismus zu und er hat es bislang auch nicht auf Vernichtung oder auf bestimmte Gruppen zur Ausrottung abgesehen. Das ist ein Übertreibung. Dass dieses Regime absolut nicht positiv für das Land ist, das steht außer Frage. Leider ist genauso unklar, wie Syrien zu einer Demokratie mit Schutzrechten für Minderheiten werden kann. Das Umsturzseminar der SWP wird wohl nur das bleiben: Ein Seminar. Damit Syrien aus seinem Dilemma rauskommt, bedarf es keiner Waffen mehr. Die sind längst im Einsatz und was dabei rauskommt, steht ja hier schon im Artikel: Syrien steigt sozial und wirtschaftlich unaufhaltsam ab. Deswegen wäre es Zeit, zu verhandeln.

  • D
    drui

    Ich kann die Verzweiflung verstehen. Dennoch gibt es keine rein militärische Lösung des Konfliktes. Wenn der Westen (neben Saudi-Arabien und Katar) militärisch hilft, dann nur so weit, dass das Assad-Regime keinen vollständigen Sieg erringt. Egal welche Seite diesen feiern könnte, es würde zu einem Völkermord kommen. Ziel kann nur eine politische Lösung sein, und hier wohl keine Machtteilung, sondern eine Spaltung des Landes mit einer Pufferzone dazwischen. Dann könnte die Zivilbevölkerung etwas zur Ruhe kommen und die jeweiligen Machthaber müssten beweisen,wie kompromissfähig, freiheitsliebend und tolerant sie wirklich sind. Es ist gut möglich, dass in den Rebellengebieten dann ein sunnitischer Gottesstaat entsteht, aber zumindest das Massensterben könnte so beendet werden.

  • K
    Kalim

    ...Nachdem die Welt es endlich als erwiesen ansah, dass das Regime chemische Waffen eingesetzt hat (ich selbst habe das gemeinsam mit entsprechend ausgebildeten Freunden dokumentiert) Ist das nicht eine offensichtliche Lüge? Warum trägt die TaZ diese Lüge mit? Selbst Raffzahn Fabius hat mit seinen

  • B
    Bürger

    Man erkennt die dreisten Lügen schon daran, dass rotzfrech alle 100.000 Tote der Regierung in die Schuhe geschoben werden.

     

    Fakt ist, dass die Mehrheit der Toten auf Seiten des Militärs oder bei Zivilisten zu finden sind, die auf Seiten Assads stehen.

     

    Die Syrer hatten die Chance zu demokratischem Wandel. Anstatt sich zu gedulden und auf friedlichem Weg Reformen herbeizuführen, wurde ein bewaffneter Aufstand angezettelt, der keinerlei Legitimation besitzt.

     

    Man kann allen rechtschaffenden und demokratisch-gesinnten Syrern nur wünschen, dass die Regierung die Lage baldmöglichst unter Kontrolle bekommt und nach einer Konsolidierung freie Wahlen durchführt.

     

    Sollte Assad dies gelingen, wäre ihm ein Sieg bei freien Wahlen sicher.

  • B
    Bartleby

    @ Uli: Mag ja gut sein, dass die Informationen von Global Research stimmen. Natürlich handeln Mächte nach ihren eigenen Interessen. Das ist nichts neues und man kann auch nichts anderes erwarten. Es ist vergebens, von der Politik Moral zu fordern.

     

    Das Problem ist nunmal aber auch, dass ein Konfliktherd wie Syrien zum Weltenbrand werden könnte, wenn die Westmächte allzu aktiv die Gegner eines von Russland und Iran gestützten Regimes stärkt.

     

    Letztlich möchte ich aber noch sagen, dass auch Pazifismus gefährliche Augenwischerei ist. Nichts zu tun, weil mein kein Gewalttäter sein will, ist auch falsch. Frieden kann halt nur mit Waffen geschaffen werden.

  • T
    Tyrfing

    Hmm, laut taz ist Gewaltverherrlichung in den Leserkommentaren nicht erlaubt-

    warum verherrlicht die taz dann im eigenen Artikel Gewalt als Mittel der Konfliktlösung?

  • HB
    Harald B.

    Für Syrien gibt es nur eine Möglichkeit das Land zu befrieden, das ist der Sieg Assad über die Rebellen. Ansonsten droht ein weiterer Gottesstaat incl. Massaker an den

  • BG
    Bernd Goldammer

    Und von was bitteschön ist die Bewegung getragen, außer vom absoluten Willen zur Macht?