Debatte Abgeordnete im Bundestag: Fraktionszwang abschaffen!
Die Parlamentsferien sind vorbei. Zeit für eine parlamentarische Utopie: Die Abgeordneten sollten nur nach ihrem Gewissen abstimmen.
E s klingt eigentlich ganz schön: „Wir wollen den Bundestag wieder zum zentralen Ort der gesellschaftlichen und politischen Debatte machen“, heißt es im aktuellen Koalitionsvertrag. Und dann folgt: „Im Bundestag und in allen von ihm beschickten Gremien stimmen die Koalitionsfraktionen einheitlich ab. Das gilt auch für Fragen, die nicht Gegenstand der vereinbarten Politik sind. Wechselnde Mehrheiten sind ausgeschlossen.“
Debatten, ja bitte – aber immer schön an die Koalitionsfraktionsdisziplin denken? Diese Formel geht mit Karacho an dem vorbei, was wir als Gesellschaft von unserem legitimierten Souverän aktuell bräuchten. Jetzt, da die Parlamentsferien zu Ende sind, fast ein Jahr nachdem die vergangene Wahl einen Bundestag in zuvor unbekannter Atmosphäre zustande gebracht hat, ist es Zeit für einen neuen Modus operandi.
Der Fraktionszwang gehört abgeschafft – abgesehen davon, dass dieses Konzept dem GG Art. 38.1, das ist der mit den Gewissensentscheidungen, sowieso widerspricht. Daran ändert auch jener Passus in der Koalitionsvereinbarung vom Januar nichts, in der abweichende Abstimmerei fast als Regierungsmeuterei gegeißelt wird. In diesem Sinne wäre es in der Tat „Zwang“, weil von oben verordnet und nicht der sanftere Euphemismus „Fraktionsdisziplin“, der suggeriert, dass sich die Abgeordneten selbst an die Kandare nehmen.
Die fraktionseinheitliche Abstimmerei gehört abgeschafft – und zwar aus zwei sehr zeitgemäßen Gründen. Zum einen, weil es die Parteienrealität ehrlicher spiegeln würde. Denn die Idee von der Volkspartei entspricht längst nicht mehr dem Status unserer Gesellschaft. Schon das Wort „Volk“ zeigt, was für ein Quatsch das ist: Die Bevölkerung ist so heterogen wie nie, die Lebens- und Liebeskonzepte, Berufswege, Zwänge, Sorgen, kulturellen Hintergründe, Herkünfte, Heimaten – nichts davon entspricht den uniformeren Zeiten vor und nach Gründung der BRD, in denen der Begriff „Volkspartei“ geprägt wurde. Ideologische Einheitsgefäße gehen kilometerweit an dieser Diversität vorbei.
Jahrgang 1978, ist freie Journalistin in Berlin. Für die taz schrieb sie zuletzt über den „Tatort“ aus Kiel und über den Umgang der Medien mit der AfD.
„Change the conversation“
Wie überholt dieses One-size-fits-all-Volkspartei-Konzept ist, zeigen vor allem Wahlergebnisse wie Umfragen: SPD und AfD hangeln derzeit etwa bei 16, 17 Prozent herum, die CDU krallt sich noch am 30-Prozent-Balken fest, die Grünen liegen stabil irgendwo über 10 Prozent: alles keine Eindeutigkeiten. Und so partikular wie die Interessen der Wähler*innen, die in ihrem digitalisieren Alltag längst gewohnt sind, sich nicht stoisch auf einen Anbieter für alles festzulegen. Da ist die nostalgisch verbrämte Sehnsucht von SPD und CDU nach komfortablen Wirtschaftswunderwerten geradezu: süß. Klar, Parteien bilden mit ihren Flügeln, Kreisen und „Pizza-Connections“ Teile des Spektrums ab; an der Fraktionsdisziplin ändert das jedoch nichts.
Dabei ist unübersehbar, wie politisch aufregend es sein kann, wenn es nur um das „Gewissen“ der Abgeordneten geht. Erinnert sich noch jemand an das Gesetz zum Großen Lauschangriff 1998? Als die FDP-Abgeordnete Sabine Leutheusser-Schnarrenberger mit verfassungsmoralischer Verve dagegen argumentierte; drei Jahre nachdem sie aus Protest gegen ebenjenen Gesetzesentwurf als Bundesjustizministerin zurückgetreten war, brachte sie den Rest des Hauses dazu, sich aus der Fläzhaltung in ihren Drehsesseln aufzurichten. Wer das nicht wollte, musste sich an ihr messen lassen. Neun Liberale stimmten damals mit der Opposition, die Koalition wähnten manche am Abgrund.
Emotional ist es damals wie heute, wenn eine Abstimmung quasi per ordre de mufti als „Gewissensentscheidung“ freigegeben wird: Es geht um viel, wenn nicht gar um alles, um die Grunddefinition von Freiheit, von Grundrechten: Sterbehilfe (2015), Präimplantationsdiagnostik (2011), den Regierungsumzug nach Berlin (1991), Transplantationen (1997) und zuletzt, im Frühsommer 2017, die sogenannte Ehe für alle. Und, ja: das Abtreibungsrecht. Das war 1974. Und eventuell nun wieder im Herbst, bei der Neuauflage des Gesetzes im Herbst. Wie uneinig sich alle sind, auch SPD und Union, bewies die Parlamentsdebatte im Februar.
Doch vor allem: Wäre diese Abstimmungspraxis nicht Ausnahme, sondern Standard, würden wir alle zu neuer Debattenmoral inspiriert. Die gängige ist auf Spaltung ausgelegt, auf ein „Wir gegen die“, ganz nach Cäsars militärischer Erfolgsformel „Divide et impera“ – Spalte und herrsche. Meister dieses Fachs ist die AfD. Mit ihr landete ein scharfes, permanentes Dagegen im Bundestag: gegen das Parlament, gegen die sogenannten „etablierten Parteien“, gegen eingeführte politische Regeln und Etikette. Diese neue Atmosphäre scheint den Spaltreflex der anderen Fraktionen zu verstärken: als ob es nur darum geht, Gräben tiefer auszuheben, auf dass der Unterschied zwischen „denen“ und „uns“ umso deutlicher hervortrete.
Das Gegenteil wäre adäquat: Statt sich auf die AfD-Ideologie der Entfremdung einzulassen, täten die anderen Parteien gut daran, nicht mitzureden. Gemäß dem simplen, aber effektiven rhetorischen Kniff: „Change the conversation“. Nicht nur zu reagieren, sondern offensiv die Gesprächskultur zu ändern: Wenn nur das beste politische Argument zählt, um überfraktionelle Themenkoalitionen zu bilden, geht es nicht mehr um parteiideologische Gräben, sondern darum, Gemeinsames zu finden.
Denn: Der Gallische Krieg ist vorbei – obwohl es derzeit oft anders wirkt, etwa wenn auch Nicht-AfD-Politiker immer häufiger ins Verrohte abrutschen. Wie stark sich diese Mentalität auf die Bevölkerung auswirkt, haben zuletzt die Auseinandersetzungen in Chemnitz erschreckend deutlich gezeigt. Motto: Wenn dieser Ton bei denen da oben Usus ist, ist das wie ein Freifahrtschein für alle. Die Vorbildfunktion parlamentarischer Umgangsformen ist nicht zu unterschätzen. Auch im Positiven. Fraktionsnivellierende Debattenkultur wird abfärben auf das Miteinander als solches: Argumente statt Spaltung. Als Leitprinzip.
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