Das wohl älteste Hotel Lübecks: Charme von 1439
Das „Altstadthotel zum Goldenen Anker“ ist seit Jahrzehnten eine rumpelige Baustelle. Trotzdem kann man hier schlafen. Ein Selbstversuch.
Oft bin ich daran vorbei gegangen im Glauben, dieses Schild sei ebenso historisch wie das Haus. Aber im „Altstadthotel zum Goldenen Anker“ lassen sich tatsächlich Zimmer buchen. Neugierig miete ich mich als Touristin in der eigenen Stadt ein. Das Abenteuer kostet 109, in der Saison sogar knapp 150 Euro – ein astronomischer Preis angesichts der Bewertungen in Onlinebuchungsplattformen. „Hat zu Halloween gepasst“ ist noch einer der netteren. „Eine Zumutung“, finden andere Gäste, „elektrische Kabel hängen aus der Wand. Fenster klemmt, zugig“, „Möbel vom Sperrmüll“.
Bei einem Gast hat Wasser aus der Lampe getropft, eine Frau postete Fotos von Löchern in der Zimmerwand und Müll hinterm Bett. Einer schlief lieber in seinem Auto, nachdem er das Zimmer sah. Aber das Hotel scheint auch Liebhaber zu haben. „Aus einem Jucks heraus haben wir uns für das am schlechtesten bewertete Hotel Lübecks entschieden“, schreibt ein Paar. „Wir wurden positiv überrascht. Es ist ein Abenteuerurlaub in einem Haus von 1439 mit dem Charme von 1439.“
So vorbereitet, sind wir neugierig auf eine Nacht im ältesten Hotel Lübecks, vielleicht sogar Norddeutschlands. Das Abenteuer beginnt hinter einer Holztür, wo sich Möbel, Kulissen aus einer „Buddenbrooks“-Verfilmung, Wäschewagen und Plastikblumen auftürmen. Statt einer Rezeption gibt es eine Telefonnummer.
Ein Herd aus dem Mittelalter
Der ältere Herr, der uns aufschließt, sieht mit der markanten Nase und dem vorstechenden Kinn nicht nur aus wie das Bild eines Pastors, er ist Theologe. Er arbeitete als Studienrat an einer Brennpunktschule und als Steuerberater, heute ist er Rentner und wohnt mit seiner 104-jährigen Mutter nebenan. Thomas Göbell ist freundlich und erzählt gerne von seinem Haus: „Es ist nicht saniert, dadurch sieht man alle Originalzustände“, sagt er und zeigt einen unter einer Bodenklappe versteckten Herd aus dem Mittelalter.
Dann führt er vorbei an unfreiwilligen Arrangements aus Dingen, die andere Hotels auf dem Speicher oder im Wirtschaftsraum verstecken. Im Flur versinkt eine antike Nähmaschine zwischen alten Zeitschriften und Bananenkartons mit Taschenbüchern, viele Türen sind ein Flickwerk aus Sperrholz. Draußen schimmert unter einer Bauplane das Skelett eines neuen Holzbalkons – eine Baustellenbesichtigung. „Wir renovieren seit 30 Jahren“, wird Göbell später erzählen, „je nachdem, wie viel Geld in die Kasse kommt. Dadurch wird es wohl nie fertig.“
Unser Zimmer liegt in der ersten Etage. Aus unverputztem Fachwerk rieselt Staub, in dem einfachen Bad mit der massiven Holztür gibt es keine Seife und für die Kleider keinen Schrank, nur zwei Sessel als Ablage. Das Plastikfenster ist ein Stilbruch.
Trotzdem: Es hat Charme, ist mit den historischen Dielen und der Patina auf einmalige Weise schön. Es ist größer als erwartet, und auf einem Tisch steht statt eines Fernsehers ein Rundfunkempfänger, der noch funktioniert. Das einfache Metallbett ist bequem, bis auf die Kopfkissen, aber die taugen auch in Sternehäusern selten etwas.
Offene Wunden im Mauerwerk
Das Fenster geht auf den Hof hinaus. Mit diesem Hof hat es angefangen, bei einem Wein mit Freunden, die in einem der schönen alten Giebelhäuschen in der Nachbarschaft wohnen. Wir blickten hinunter auf eine Hügellandschaft aus Bauschutt und den Gerippen alter Fahrradständer. Vom Heizungsraum des Hotels wehte ein rußiges Bouquet herauf. Hier könnte man eine Oase bauen, sagte ich. Sie lachten. Eher nicht, der Hof sehe seit Jahren so aus. Dort sei übrigens der Nachteingang eines Hotels. Das konnte ich erst nicht glauben.
Nun gehen wir durch diesen Nachteingang, vorsichtig, denn es ist früh dunkel und der Untergrund ist tückisch. Wir balancieren vorbei an Geröllbergen, dann auf Spanplatten durch einen Hausflur. Offene Wunden klaffen im Mauerwerk. Am Ende führt eine löchrige Baustellentür auf eine Seitenstraße.
Ich kenne so etwas aus unter der Hand vermittelten Hostels in Südeuropa, Asien oder Südamerika. Überraschend ist, es in meiner eigenen Stadt zu finden – und in dieser Preisklasse. Göbell begründete die Preise mit den hohen Reinigungskosten: „In den alten Räumen dauert das Putzen eine Stunde, und das Waschen der Bettwäsche kostet acht Euro.“
Am nächsten Morgen wecken uns Schritte und Stimmen von oben. Es ist kühl, die Elektroheizung spendet nicht viel Wärme. Das Frühstück im Gastraum zwischen Antiquitäten, Metallwerbetafeln und rustikalen Möbeln ist einfach. Der Morgen beginnt trotzdem gut, wir haben nette Gespräche mit der Angestellten im Frühdienst und den zwei anderen Gästen. „Ich glaube nicht, dass dieses Hotel einen Stern hat“, sagt Gilbert Kahn, während er uns sein enges, zugestelltes Zimmer zeigt. Er hatte zuerst gedacht, er müsste kalt duschen, weil in seinem Bad der Hahn für das kalte und das warme Wasser vertauscht sind.
„Man hat noch den Originalmuff“
Durch das andere Zimmer zieht sich ein dickes, in Schaumstoff gehülltes Rohr. Die meisten der insgesamt zwölf Räume sind unverschlossen. Auf Böden aus welligem PVC, zwischen Wänden mit unverkleideter Spanplatte sind sie mit einem wilden Mix aus Second-Hand-Möbeln eingerichtet. Offenbar haben wir das schönste Zimmer im Haus ergattert.
Göbell weiß, dass sein Hotel speziell ist. „Man hat noch den Originalmuff und das Gruselgefühl, dass gleich jemand von damals um die Ecke kommt“, scherzt er. Er erzählt von Stammgästen aus Skandinavien. Gäste aus Süddeutschland beschwerten sich dagegen oft, „die suchen das normale Hotel“. Und es geht noch einfacher: Im Nebengebäude entsteht gerade ein Alkoven-Zimmer. „Ich bin gespannt, wie der erste Gast das aufnimmt. Dort kann man wirklich übernachten wie auf dem Strohlager im Mittelalter.“
Göbells Geschäftsidee ist, mit dem Altstadt-Hotel die Renovierung des Nachbarhauses zu finanzieren. Dieses war früher mit dem heutigen Hotel verbunden und ist ein einmaliges Denkmal: einst Fürstensitz und Bischofsherberge, war es später als „Hotel Stadt Hamburg“ das erste Haus am Platz, in dem sogar der Kaiser residierte.
Heute verfällt es, weil das Geld hinten und vorne nicht reicht. 2007 ließ Göbell ein NDR-Filmteam ins Haus und holte aus Gurkenkartons in einem feuchten Verschlag historische Schätze, sein Familienerbe: kirchengeschichtliche Bücher aus dem 16. Jahrhundert, Bilder und Zeichnungen des Goethe-Malers Johann Tischbein. Einige sind so wertvoll, dass er mit ihrem Verkauf einen Teil der Renovierungskosten von geschätzt sechs Millionen Euro bezahlen könnte.
Die frühere Wohnung einer Herzogin
Aber Göbell möchte seine Schätze nicht verkaufen. Aus der Bischofsherberge hat er ein „Freilichtmuseum“ gemacht, wo er sie ausstellt. Hier kann die frühere Wohnung einer Herzogin besichtigt werden, die später als Bordell diente, und eine Flüchtlingsunterkunft von 1945. Das private Museum bekommt keinen Cent öffentlicher Gelder.
„Es ist eine traurige Geschichte“, sagt ein Gewerbetreibender der Straße, der den Verfall der Häuser schon eine Weile beobachtet. „Alle Angebote der Denkmalschutzbehörde und der Stadt scheiterten, weil der Besitzer sich schnell bevormundet fühlt. Dann schließt er die Tür.“
Deshalb hätten auch die Stiftungen den Geldhahn zugedreht, und schon mehrfach habe das Hotel die Konzession verloren. Dass überhaupt Gäste kommen, erklärt sich die Pressesprecherin der städtischen Tourismusgesellschaft damit, dass die Altstadt „sehr gut gebucht“ sei, „gerade an den Adventswochenenden“.
Es sind schwierige Zeiten für einen älteren Herrn mit großen Plänen – und sein abenteuerliches Hotel.
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