Das vergessene Rezept: Toast Hawaii ist ein verlogener Snack
Typisch Wirtschaftwunder: überbackener Toast mit Ananas. Trotz miserabler Zutaten hat der Toast Hawaii bis heute überlebt – warum eigentlich?
Wenn ein Gericht älter ist als man selbst, zählt es zu den hoch emotional besetzten Kindheitsgerichten. Spricht man also über ein solches Kindheitsgericht, spricht man mehr über die Begleitumstände jener Zeit als über die eigentliche Rezeptur.
Beim „Toast Hawaii“ teilt sich die deutsche Menschheit in zwei Gruppen: Jene, die in den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts schon beißen und kauen konnten, und jene, die noch nicht geboren waren. Die zweite Gruppe verfügt in diesem Fall über die Gnade der späten Geburt.
Es gibt verdammt wenige Gerichte, die einen eindeutigen Geburtstag haben, aber der Toast Hawaii gehört dazu. Man kann sogar seine genaue Geburtsstunde nennen: Es war ein Freitag. Kurz nach 21.30 Uhr im Jahr 1955. In den deutschen Wohnzimmern, die schon einen Fernseher besaßen, flimmerte die Sendung „Clemens Wilmenrod bittet zu Tisch“, auf den Nierentischchen stand Eierlikör, und die Paare, die sich vor dem Bildschirm zuprosteten, hießen wechselweise Hildegard und Heinz oder Gertrud und Willy oder Helga und Eberhard. Vom Flur her roch es nach Linoleum und aus der Küche nach falscher Bratensoße.
Der Krieg war zehn Jahre vorbei, die Nazizeit verdrängt, der Aufschwung in vollem Gange. Just in jenem Jahr, in dem der Toast Hawaii erfunden wurde, endete die Besatzungszeit. Das dringende Bedürfnis, sich nach all den Entbehrungen endlich wieder etwas mehr aufs Brot zu legen, war enorm.
Und genau in diesem historischen Moment, eben an jenem Freitag um 21 Uhr 30, trat der Fernsehkoch Clemens Wilmenrod vor die Kamera und schmierte nicht nur Butter auf eine getoastete Brotscheibe, sondern legte eine Scheibe Schinken, einen Ananasring aus der Dose und eine Scheibe Käse noch obendrauf. Dann schob er den voluminösen Turm in den Backofen und garnierte ihn zuletzt mit einer Cocktailkirsche. Es war die reinste Verschwendung.
Die Zutaten: Öko-Toastbrot, Bündnerfleisch, frische Ananas, Bergkäse aus Rohmilch (mindestens sechs Monate gereift), frischer Thymian.
Das Rezept: Toastbrot hellbraun rösten, mit mehreren Scheiben Bündnerfleisch und einer Scheibe Ananas belegen. Bergkäse grob reiben und satt darüber geben. Mit Thymian bestreuen und kurz im Ofen bei Oberhitze backen, bis der Käse geschmolzen ist. Kein Ketchup dazu.
Lieblingsgericht einer Verdrängergeneration
Es war nicht nur Verschwendung, es war auch nahezu alles falsch am Toast Hawaii, was falsch sein konnte. In Hawaii kannte man das Gericht nicht. Clemens Wilmenrod war gar kein Koch, sondern ein Schauspieler, und eigentlich hieß er Carl Hahn. Der Scheiblettenkäse war gar kein richtiger Käse, sondern ein Kunstprodukt aus Schmelzsalzen und Emulgatoren. Ein verlogenes Gericht aus einer verlogenen Zeit.
Dafür hat es überraschend lange überlebt. Bis weit in die sechziger Jahre hinein zog der Toast Hawaii seine Ketchup-Spuren durch deutsche Esszimmer, vorzugsweise aufgetischt am Samstag, kurz vor Sendebeginn zu „Der goldene Schuss“. Es war das Lieblingsgericht einer Verdrängergeneration, die über ihre eigene Schuld einen Deckel aus Schmelzkäse und Dosenananas legte. Toast Hawaii war ein politisches Rezept. Man hätte das NSDAP-Mitglied Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger nicht öffentlich ohrfeigen, sondern besser mit einem Toast Hawaii beschmeißen müssen.
Heute findet man das Gericht allenfalls noch in Abwandlungen beim schlechten Italiener als Pizza Hawaii, und da auch noch meist falsch geschrieben mit nur einem „i“. Vielleicht ist es Zeit, ihm wieder eine Chance zu geben, ihn neu zu definieren als modernen Ausdruck einer aufgeklärten Küchengeneration und weitgehend aufgearbeiteten Vergangenheitskultur.
Das vergessene Rezept, weitere Autoren: Undine Zimmer kocht mit dem, was im Kühlschrank übrig blieb; die Köchin Sarah Wiener komponiert aus einer Zutat drei Gerichte, und der taz-Koch Christoph Esser beantwortet die Fragen der Leser zur Hardware des Kochens unter fragdenkoch@taz.defragdenkoch@taz.de
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