: Das große Drängeln in der Mitte
von BETTINA GAUS
„Man kann nicht mit der PDS koalieren und gleichzeitig die Mitte für sich in Anspruch nehmen“, hat Angela Merkel gesagt. Sie müsste es eigentlich besser wissen, aber das darf die angeschlagene CDU-Vorsitzende derzeit wirklich nicht zugeben. Wenn die Kritik an ihrer Amtsführung nicht auf ohrenbetäubende Lautstärke anschwellen soll, dann muss sie zumindest so tun, als ob sie glaubte, dass im Berliner Wahlkampf tatsächlich um die Mitte gerungen wird. Andernfalls entfernt sie sich allzu weit von ihren tonangebenden westdeutschen Parteifreunden. Dabei zeigt sich am offenen Ausgang der Berliner Wahl in der Realität doch etwas ganz anderes: Im vereinigten Deutschland mag es zwar eine politische und soziale Mitte geben. Im Parteienspektrum aber lässt sich diese Mitte niemandem mehr zuordnen.
Die Klientelen von Unionsparteien und PDS sind dafür gute Beispiele. Hinsichtlich ihrer Programme könnten diese Parteien weiter voneinander entfernt nicht sein – ihre jeweiligen Anhänger aber haben erstaunlich viel gemeinsam. Wie sehen die Stammwähler der Union im Westen aus? Sie fürchten sich vor einschneidenden Veränderungen und ausländischer Zuwanderung, stehen dem Prozess der europäischen Integration skeptisch gegenüber, beklagen einen gesellschaftlichen Werteverlust, fühlen sich ihrer Heimatregion oft stärker verbunden als andere und wünschen sich eine politische Autorität.
Und was wollen die Stammwähler der PDS im Osten? Dasselbe. Deshalb hat die Partei auch so große Probleme mit ihren – wenigen – Anhängern im Westen. Diese geben der PDS eben nicht aufgrund ihres Beharrungsvermögens die Stimme, sondern weil sie sich einen grundlegenden Kurswechsel wünschen. Sollte es im vereinigten Berlin tatsächlich zu einer rot-roten Koalition kommen, dann wird die PDS an ihren Westwählern noch viel Freude haben. Mit dem Hinweis auf die Gemeinsamkeiten zwischen Union und PDS soll übrigens nicht das alte Klischee recycelt werden, dem zufolge die Extreme sich berühren. Weder die PDS noch die Union sind extremistische Parteien. Sie bedienen lediglich beide eine konservative Grundhaltung – vor dem Hintergrund unterschiedlicher Systemerfahrungen.
Die SPD musste sich nach dem Verlust des Industrieproletariats als potenziellen Mehrheitsbeschaffers um neue Schichten bemühen. Deshalb haben die Wahlkampfstrategen, die Gerhard Schröder 1998 zum Sieg verhalfen, den Kunstbegriff der „neuen Mitte“ erfunden. Er klingt gut, besagt jedoch gar nichts. Niemand hat das besser zum Ausdruck gebracht als der Bundeskanzler selbst, der sich in seiner ersten Regierungserklärung um eine Definition bemühte. Von einer „ganz und gar unaggressiven Vision einer neuen Mitte“ sprach er damals, und er fuhr fort: „Diese neue Mitte grenzt niemanden aus. Sie steht für Solidarität und Innovation, für Unternehmungslust und Bürgersinn, für ökologische Verantwortung und eine politische Führung, die sich als modernes Konzernmanagement begreift.“ Dash wäscht so weiß, weißer geht’s nicht.
Die politische Waschmittelwerbung hatte günstige Voraussetzungen vorgefunden. Die so genannte New Economy boomte, und dabei schien es nur Gewinner und keine Verlierer zu geben. Eine Heerschar von Börsenneulingen hielt Aktienspekulation für eine risikolose Form des Glücksspiels, und die alten Westparteien überboten sich darin, fast jede Form staatlichen Handelns als Aufbau einer unzulässigen bürokratischen Hürde zu bezeichnen, die nur der Eigenverantwortlichkeit der mündigen Bürger im Wege stehe. Inzwischen hat es sich ausgeboomt. Plötzlich wird in Leitartikeln großer überregionaler Medien wie der Süddeutschen Zeitung erneut gefordert, der Staat müsse „eine aktivere Rolle übernehmen“. Er sei „wieder als Unternehmer gefordert, der investiert, solange die private Wirtschaft gelähmt erscheint“. Lafontaine lässt grüßen.
Nun muss sich die SPD mit den Geistern auseinander setzen, die sie selbst gerufen hat. Je nach politischem Standpunkt hoffen ihre Gegner und befürchten ihre Anhänger, dass Schröder die virtuelle „neue Mitte“ verliert, weil sich die Berliner SPD an die PDS angenähert hat. Schicken sich also die Linken, ausgehend von der deutschen Hauptstadt, an, die Macht im Staate zu übernehmen? Der CDU-Spitzenkandidat Frank Steffel hat die Abwahl des Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen jedenfalls schon mal als „linken Putsch“ bezeichnet. Der stellvertretende CDU-Vorsitzende Christian Wulff aus Niedersachsen nannte die Zusammenarbeit von SPD und PDS in Berlin einen „nationalen Skandal“. Unions-Fraktionschef Friedrich Merz dekretierte: „Aus der neuen Mitte ist längst die alte Linke geworden.“
Wirklich nicht. Die rot-rote Koalition in Mecklenburg-Vorpommern bereitet nicht etwa die Revolution vor, sondern wurschtelt sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten gerade eben so durch. In Berlin plant die PDS erheblich einschneidendere Sparmaßnahmen der öffentlichen Hand als die CDU und schließt dabei auch den Abbau von Sozialleistungen nicht aus. Wo auch immer die PDS in Zukunft mitregieren wird – umwälzende Veränderungen sind von ihr nicht zu erwarten.
Die Berliner wissen das. Mag der Rest der Republik so tun, als handele es sich bei dem bevorstehenden Urnengang um eine Schicksalsfrage der Nation oder doch zumindest um Landtagswahlen: Den meisten Einwohnern der Hauptstadt geht es zunächst einmal um ihre kommunalen Angelegenheiten. Ob man Schäuble denn wirklich Kompetenz in der Frage zugebilligt hätte, wie künftig das Toilettenpapier an den Schulen finanziert werden solle, rätselt ein Berliner CDU-Anhänger, der eine Spitzenkandidatur des ehemaligen Parteivorsitzenden insgesamt durchaus wünschenswert gefunden hätte. Ein 43-jähriger Rollstuhlfahrer, der die CDU unter keinen Umständen wählen will, bedauert die Absage des Landesverbandes an Wolfgang Schäuble hingegen aus anderem Grund: „Das wäre ein schönes Rennen der Minderheiten geworden, wenn ein Behinderter, ein Schwuler und ein Kommunist um die Macht gekämpft hätten.“
Wenigstens den gelassenen Spott haben die Berliner dem Rest der Republik voraus, wenn es um die PDS geht. Vielleicht nicht mehr lange. Laut dem jüngsten Politbarometer steht immerhin die Hälfte der Bundesbürger einer Regierungsbeteiligung der PDS mittlerweile gleichgültig gegenüber oder findet sie sogar gut. Die öffentliche Akzeptanz einer Partei entscheidet sich nicht an der Sonntagsfrage – sondern daran, ob auch ihre politischen Gegner einzuräumen bereit sind, dass sie eine wichtige Rolle einnimmt. In dieser Hinsicht hat die PDS in den letzten Jahren kontinuierlich an Ansehen gewonnen.
Und was bedeutet das für die anderen kleinen Parteien im politischen Spektrum? Die FDP hat wenig Anlass zur Sorge. Wer die Schwerfälligkeit und – wie beispielsweise in Berlin – den Filz der CDU nicht mehr erträgt, dürfte kaum zur PDS wechseln. Die Liberalen könen darauf hoffen, dem größten Teil verdrossener Konservativer eine neue Heimat bieten zu dürfen. Fürs politische Überleben reicht das allemal. Kritischer stellt sich die Lage für die Grünen dar. Sie haben so erfolgreich gegen ihr Image als ewige Oppositionspartei angekämpft, dass sie damit nun nicht mehr auf Stimmenfang gehen können. Aber womit dann? Allein mit Mehrheitsmeinungen kann eine kleine Partei nicht punkten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen