piwik no script img

Das erfolgreichste Musikvideo im NetzEine andere Erotik ist möglich

371 Millionen Views sammelte Miley Cyrus’ „Wrecking Ball“ in den ersten elf Monaten 2013. Die Haudrauf-Rhetorik lässt keinen Raum für Subtext.

Close-up auf ein leidgeplagtes Gesicht. Screenshot: vevo.com

Nackt reitet sie auf einer Metallabrissbirne, dabei fragil und entschlossen wirkend und singend: „Wir küssten uns und ich verfiel deinem Zauber.“ Dann die Schlüsselszene: Ein Close-up auf das leidgeplagte Gesicht, die Zunge bahnt sich ihren Weg durch schreiend rote Lippen, bevor diese lasziv die Spitze eines Vorschlaghammers umspielen.

Das im August veröffentlichte Video, dessen Haudrauf-Metaphorik weder Raum für Erotik noch für einen vermeintlich subversiven Subtext à la Lady Gaga lässt, steht an der Spitze der Jahres-Top-Ten der erfolgreichsten Musikvideos im Netz: 371 Millionen Mal wurde es in den ersten elf Monaten geschaut. Vom Boulevard affirmativ hochgejazzt und von der arrivierten Journaille ob der eindeutigen sexuellen Referenzen kritisiert, geschah das Erwartbare: Das mediale Wiederkäuen führte zur Überpräsenz.

Cyrus ist ein Produkt einer von weiblicher Sexualität geprägten Ökonomie-Maschine, die in einer von männlicher Libido dominierten Welt bis heute die Bild-Öffentlichkeit prägt. Als eine Art Modell-Lolita des 21. Jahrhunderts liefert Miley Cyrus damit auch die willkommene Projektionsfläche. Für lüsterne Fantasien alter Männer, aber auch für Tagträume von Teenagern, denen Cyrus vermutlich ein Vorbild ist.

Schon die Biografie des 21-jährigen Teenstars, der vom Musikervater, dem Countrystar Billy Ray Cyrus, zum Star herangezogen wurde, liest sich als American Dream: aufgewachsen auf einer Farm im Süden der USA, erste Versuche als Cheerleader, später Schauspiel- und Gesangsunterricht, dann die Hauptrolle in einer Serie, die eigene Modelinie und schließlich das Soloalbumdebüt, das sie in den Pop-Olymp erhob.

Grundzutat des Popbusiness

Darüber hinaus liefert Cyrus seit ihrer Verwandlung vom Kinderstar zum Sternchen auch eine andere Grundzutat des Popbusiness: Provokation. Nicht nur hat sie kürzlich bei den MTV Europe Music Awards in Amsterdam freizügig einen Joint entzündet, auch auf textlicher Ebene wird provoziert. So preist sie etwa im aktuellen Song „We can’t stop“ die Vorzüge ausgelassenen Tanzens unter dem Einfluss der Partydroge MDMA.

Die genauere Analyse von „Wrecking Ball“ verweist dann jedoch auf ein klassisches Sujet: Liebe. Cyrus selbst kommentierte das Video kurz nach Erscheinen, wie folgt: „Wenn man über meine Nacktheit hinwegkommt und mich genauer anschaut, sieht man, dass ich noch zerbrechlicher aussehe, als der Song klingt.“

Apropos: Dass bei all den Debatten die Musik, eine Art synthetisierter Power-Rock mit einer abgeschmackten Dramaturgie zwischen devoter Zerrissenheit und anklagendem Verzweiflungsgesang, zu kurz kommt, ist klar. Die eindimensionalen Reaktionen auf das Video erzählen auch viel über den Zustand der Mainstreamgesellschaft. In einer vom Visuellen dominierten Welt ist Cyrus das perfekte Symbol für den Exhibitionismus der Gegenwart.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

15 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • N
    Nichbeissen

    Cyrus wirkt wie ein Gebrauschsartikel und Wegwerfprodukt

  • L
    Leser

    Kein wunder das MTV kaum noch Musikvideos spielt. Schaut amn sich die Top Ten an könnte man meinen das Musikvideos immer nur spärlich bekleidete Damen zeigen unterlegt mit mehr oder minder schlechter Musik. Ein einziges Video unter den Top Ten weicht davon ab. Traurig aber wahr.

  • K
    Kaboom

    Die Mucke ist Mist. Die Stimme ist zum Gähnen.

    Und erotisch finden es vermutlich Kiddies und Opis, wenn ein Mädchen (von Frau kann man bei der Figur eh nicht sprechen) nackt auf einer Abrissbirne sitzt.

  • D
    derSchreiber

    Ich habe in dieses Video einmal reingezapped und dachte bei mir: "Netter Softporno, aber die Musik dazu ist scheiße."

    Damit schaltete ich weiter. Muss mich diese Frau interessieren die auf Krampf versucht Skandale zu produzieren um was auch immer zu verkaufen?

  • Nicht ein einziges der zehn meistgesehenen Musikvideos, die oben aufgelistet sind, habe ich gesehen. Pop is dead!

     

    Entweder das oder meine Wahrnehmung populärer Musik ist es, die einen toten Punkt erreicht hat. Wahrscheinlich. Miley Cyrus ist mir überhaupt nur deshalb ein Begriff, weil Nick Cave ihren Namen in einem Lied auf seinem aktuellen Album erwähnt. OMG, selbst der olle Nick Cave ist in Sachen Popmusik mehr auf dem Laufenden als ich.

    • S
      Stilbruch
      @Regenwetter:

      "selbst der olle Nick Cave ist in Sachen Popmusik mehr auf dem Laufenden als ich."

       

      Was kein Wunder ist, seinen "kommerziellen Durchbruch" hatte er schließlich mit einem Duett mit Kylie Minogue als Gesangspartnerin. Hat wohl kaum ein Cave-Fan vergessen ...

      • @Stilbruch:

        Dass dieser Erfolg in erster Linie an Minogue lag, wage ich zu bezweifeln. Zum einen, weil sie zum damaligen Zeitpunkt nicht gerade auf dem Höhepunkt ihrer Karriere war. Zum anderen, weil ich dem Song selbst entsprechende (Hit-)Qualitäten zubillige. Das Musikvideo wird außerdem einen entscheidenden Beitrag geleistet haben.

         

        wiki: "Laut eigener Aussage trat ein Wendepunkt in [Minogues] Karriere ein, als sie 1995 mit Nick Cave das Duett Where the Wild Roses Grow aufnahm. Durch diese ungewöhnliche Zusammenarbeit wurde Minogue nun auch für Musikkritiker und -hörer annehmbar, die sie zuvor stets belächelt hatten. Der Song selbst erhielt vor allem in Australien zahlreiche Preise und wurde in vielen anderen Ländern Minogues größter Erfolg in den 1990er-Jahren überhaupt."

        • JE
          Jaja, erstmal Wiki fragen
          @Regenwetter:

          Darum geht es doch gar nicht. Cave hatte sich mit dieser künstlerischen Entscheidung der Popmusik zugewandt (und das kam bei seinen alten Fans überhaupt nicht gut an, was in diesem Kontext aber auch nicht viel zur Sache tut).

          • @Jaja, erstmal Wiki fragen:

            Aha, es geht also weder um das eine noch das andere. Aber worum dann? Warum sprechen Sie in Rätseln? Bitte mal auf den Punkt kommen, ohne weiterhin zu lamentieren. Dann muss ich auch nicht mehr raten und Sie mit falschen Antworten belästigen.

             

            Auch Ihr Sprechen für alle alten Fans finde ich recht willkürlich dahingeredet. Hauptsache kontern, nech?

            • OM
              och mädchen
              @Regenwetter:

              Ja, wie kommt es nur dass "der olle Nick Cave mehr auf dem Laufenden ist" in Sachen Popmusik als Sie? Weil er er schon lange die Wende zu kommerzieller Musik vollzogen hat, so einfach is dat; Ihre Verwunderung konnte ich deswegen nicht nachvollziehen und ihre Zickigkeit jetzt, ehrlich gesagt auch nicht (was nicht weiter schlimm ist, jedenfalls nicht für mich).

              • @och mädchen:

                "so einfach is dat"

                 

                Och Bub, ist es das? Oder ist es nur so einfach, wie Sie es gerne hätten?

                 

                Für Sie stellt es also einen logischen Schluss dar, dass Nick Cave, weil er vor 17 Jahren ein Duett mit der damals erfolglosen Minogue sang, eine "Wende zu kommerzieller Musik vollzog" - und nicht vielleicht, weil er es aus kreativer Hinsicht für eine richtige Entscheidung hielt. Vielleicht kennen Sie, der über die Meinung der alten Fans bescheid wissen will, die reale Hintergrundgeschichte des Songtextes, der von einer Person handelt, die man auch in einer Figur wie Minogue erkennen kann - aber das nur am Rande. Überdies schlussfolgern Sie, dass er deswegen, weil er also vor 17 Jahren ein Duett mit der damals erfolglosen Minogue sang, zwangsläufig besser bescheid wissen müsste über Popmusik als ich - eine Person, die Sie nicht kennen -, also sozusagen irgendwer.

                 

                Dass dies so ist, habe ich im Eingangskommentar selbst geäußert. Wozu also untermauern? Obendrein mit absurder Logik? Sie ertragen die neuerliche Zickigkeit hoffentlich. Vielleicht erkennen Sie meinen Tonfall aber auch als bloßen Spiegel Ihres eigenen. Vielleicht aber auch nicht.

                • PI
                  Prof. Ilneurose
                  @Regenwetter:

                  Lustig, mehr davon!

  • Vielleicht lag die "Popularität" der freizügigen Bilder auch einfach an dem bewussten Gegenprogramm, dass Cyrus im Vergleich zu der hochglanzpoliert-unterleiblosen Welt ihrer prägenden Rolle als "Hannah Montana" fährt. Ähnliches war seinerzeit auch bei Britney Spears zu beobachten, als die sich von der Plastikerotik ihres Südstaaten-Cheerleader-Images trennte und plötzlich als echte, "schmutzige" Frau präsentierte.

     

    Eine wie z. B. Courtney Love (mal wieder) unzureichend bekleidet zu sehen, ist kein Hingucker. Die war, ist und bleibt eben eine Skandalnudel -na und? Ihre Provokation wirkt abgegriffen. Diese "Little Miss Perfect"-Darstellerinnen aus der Disney-Klonfabrik hingegen machen neugierig, was sich hinter ihrer blankgeputzten, hartchromversiegelten Fassade verbirgt - und sei es nur der Teil, der aus Stoff besteht.

  • ?

    hä? im august veröffentlicht aber dann die Klick angabe für 11 Monate? wie geht das denn?

    • N
      Neues
      @?:

      Jap, hat mich auch sehr gewundert. Ich vermute, dass es da irgendeinen Text (oder eine Tabelle) von einem Statistiker oder so gab, in dem alle Angaben auf das gesamte Jahr bezogen wurden. Beim schreiben des Artikels ist das wohl irgendwie durchgerutscht. Allerdings wären mir elf Monate lieber – immerhin sind 375 Millionen Views in nicht einmal vier ganzen Monaten doch noch viel gruseliger, oder?