Das Sterben der Nachtzüge: Leise rattern die Schienen
Die Bahn hat im Dezember einige Nachtzüge gestrichen. Unser Autor war mal Schlafwagenschaffner. Zeit, sich zu erinnern.
Gehöfte und ein paar wenige Wohnhäuser säumten die laternenlose Straße, aber nun bogen wir auf einen Schotterweg ein, uneben und in doppelter Rinnung merklich von schweren Traktoren ausgefahren. Der Weg führte an einem Grundstück entlang, dessen Hintergarten keinen Unterschied mehr zwischen sich und dem Waldrand machte. Als es schließlich steil bergan und mitten hinein in den Forst führte, ging dem Weg der Schotter aus. Das regnerische Adventswetter hatte ihn aufgeweicht. Deshalb und der vollkommenen Dunkelheit wegen wurden unsere Schritte unsicher. Der spannendste Teil der Nachtwanderung lag vor uns.
Heruntergehend vom Kloster Scheyern hatten wir uns schon unterhalten. Meine gruseligen Geschichten waren alle erzählt, doch den Jungen ließ der dunkle Wald schaudern und er wünschte, die Unterhaltung über geeignete Themen wieder aufzunehmen. „Wenn es auch nicht gruselig war, was hast du ansonsten Schlimmes erlebt, als du jung warst?“
Viel konnte ich da nicht bieten. War mir ja zeitlebens gut ergangen.
„Am schlimmsten war es, als ich damals gleich nach dem Abitur obdachlos war. In Paris.“
„Richtig obdachlos?“
„Ja. Auf der Straße.“
Steffen Kopetzky ist Schriftsteller. Im Februar erscheint sein neuer Roman „Risiko“ bei Klett-Cotta
„Hast du unter der Brücke geschlafen?“ Die Stimme meines Sohnes ließ erkennen, dass er daran durchaus Anziehendes fand.
„Nein, unter der Brücke nicht. Erst habe ich bei einem Bekannten auf der Couch geschlafen und mich nur tagsüber in der Stadt herumgetrieben. Aber dann wollte er nicht mehr, dass ich bei ihm übernachte. Da musste ich draußen bleiben.“ – „Hast du auf der Parkbank geschlafen?“
„Genau. Zeitungen als Matratze. Zeitungen als Bettdecke.“
Ein Ticket für den Schlafwagen nach München
„Warum bist du nicht heimgefahren?“ – „Ich wollte Oma und Opa nicht eingestehen, dass mein Paris-Abenteuer gescheitert war. Ich dachte, dass sich vielleicht was ergibt und ich doch bleiben könnte.“
„Ein Job?“
„Dachte ich. Irgendwas.“
„Und dann?“
Was bleibt am Ende? Spuren. Zeichen. Geschichten. Die taz.am wochenende vom 27./28. Dezember 2014 erinnert an die Menschen, die 2014 starben. An Frank Schirrmacher, Siegfried Lenz und Stefanie Zweig. An den Graffiti-Künstler Oz, der mit 64 Jahren beim Sprayen auf den Gleisen starb. An Daisy Oehlers, die in der MH17 saß, dem Flugzeug, das über der Ukraine abgeschossen wurde. Und an viele andere. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
„Nach einer Woche auf der Parkbank habe ich mir mit meinen letzten Francs ein Ticket für den Schlafwagen nach München gekauft.“
„War der nicht teuer?“
„Ja schon. Aber weißt du, es war Mitte November, kalt und regnerisch. Als ich mir eines Abends wieder was suchen musste, wo ich schlafen könnte, habe ich es auf einmal nicht mehr ausgehalten. Auf der Stelle bin ich mit meinem Koffer zum Gare de l’Est gefahren, das ist der Ostbahnhof von Paris, und habe nach einem Zug Richtung München geschaut. Es waren aber schon alle weg, nur noch der Nachtzug war da. Klar, ich hätte auch einen Sitzplatz nehmen können, aber ich dachte mir: Wenn ich schon pleite bin, dann kann ich das auch im Schlafwagen sein.“
Wir erreichten eine Gabelung und entschieden uns für links. Bald aber verschwand hier der Weg und wir gingen mitten durchs Holz. Gelegentlich streiften uns die Zweige kleiner Fichten. Doch zurückkehren und den anderen Weg nehmen wollten wir nicht. Für einen Moment dachte ich darüber nach, ob der Verzicht auf die Mitnahme einer Taschenlampe ein Fehler gewesen war. Der Junge fürchtete sich.
„Was geschah dann im Schlafwagen?“
„Es war ganz herrlich. Der Schaffner war sehr nett und gab mir ein eigenes Abteil, obwohl ich nur zweiter Klasse hatte. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sich das Bett angefühlt hat. Die frischen Laken, das Kopfkissen. Das herrliche leise Rattern der Schienen. Am nächsten Morgen in München, zum ersten Mal wieder richtig ausgeschlafen, war ich ein anderer Mensch.“
„Bist du sicher, dass wir uns nicht verlaufen haben?“
„Ja, keine Sorge. Hier noch weiter den Berg rauf und dann müssten wir beim Höflmair rauskommen. Pass nur auf, wo du hintrittst.“
„Was war dann?“
Conducteur exceptionell, Sektion München
„Als mir der Schaffner, ein Franzose, nicht viel älter als ich, am Morgen den Kaffee brachte, kamen wir ins Gespräch. Ich erzählte, dass ich einen Job bräuchte, und er gab mir den Tipp, mich bei der Schlafwagengesellschaft zu bewerben. So kam das. Ich zog die Uniform der Wagons-Lits an, der Internationalen Schlafwagen-Gesellschaft. Conducteur exceptionell, Sektion München.“
„Und wo bist du gefahren?“
„Wir in München bedienten regulär drei Züge, den Neapolitaner, den Florenzer und den nach Oostende. Aber man kam zwischendurch überall mal hin, auch nach Paris ein paar Mal. Die Schlafwagen waren die Flaggschiffe der Nachtzüge, und die gab es zwischen allen großen Städten in Europa. Hunderte von Routen. Und manche echt alt. Oostende–Wien zum Beispiel, der fuhr seit 1894, jeden Abend. Es gab manchmal sogar Speisewagen. Wenn die Leute schliefen, konnte man sich dort mit den anderen Schaffnern treffen. Die tollsten Leute aus allen möglichen Ländern habe ich da kennengelernt.“
„Sind auch schlimme Sachen passiert?“
„Es gab immer wieder Eisenbahnräuber. Zwischen Verona und Rom musste man aufpassen, da waren Trickbetrüger unterwegs.“
„Haben die dich ausgeraubt?“
„Glücklicherweise nie.“
Der sehnsüchtige Traum von einem freien Kontinent
Während wir uns die letzten Meter der Steigung hinaufkämpften, ließ ich die Welt der Nachtzüge, wie sie Europa nach dem Fall des Eisernen Vorhangs durchkreuzt hatten, wiedererstehen, eine imaginäre Merklin-Anlage, auf der alles nachgebaut war. Die großen Bahnhöfe, an denen man voller Euphorie ankam. Die kleinen Pensionen, in denen man tagsüber schlief. Das unbeschreibliche Gefühl, der Letzte an einem mitternächtlichen Gleis zu sein, das Versprechen unendlich zur Verfügung stehender Zeit und der sehnsüchtige Traum von einem freien Kontinent, der wie an Perlschnüren gereiht seine schönsten Städte darbot, Brüssel-Midi um kurz nach fünf, Bologna-Centrale um sechs, Krakau-Glowny um halb sieben. Gaben der Morgenröte. Europa.
„Toll, wenn man nachts nicht schläft, sondern Zug fährt. Meinst du, ich kann später auch Schlafwagenschaffner werden?“
„Ich fürchte, daraus wird nichts. Die Schlafwagen sterben schon langsam aus.“
„Wieso?“
„Früher waren Nachtzüge Ehrensache. Heute müssen die Eisenbahnen immerzu sparen. Zu wenige Reisende. Die Leute fliegen. Scheint ihnen schneller und billiger.“
Wir erreichten endlich das kleine Tal des vermuteten Einödhofs, und da wir nun auf einem uns bekannten Pfad zwischen Wald und Wiesen liefen, der Sternenhimmel zu sehen und es auch gar nicht mehr weit bis zu unserem Wohnviertel war, atmeten wir beide leichter.
Mein Sohn begann von dem Zeltlager-Erlebnis vor drei Jahren zu berichten, das er auf das Einwirken Außerirdischer zurückführt. Mir fiel auf, dass ihm die Geschichte jedes Mal gruseliger gelang. Während ich mit Freude den Wendungen der sagenhaften Untertasse über dem augusteischen Badeweiher folgte, fragte ich mich, ob mein Sohn sich eines fernen Tages wohl auch einmal als ein Veteran wiederfinden würde und ob der Wald dann noch da wäre, um ihn des Nachts zu durchqueren und sich den Schauder mit alten Geschichten zu vertreiben.
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