piwik no script img

Das Lexikon der Brutalität

Wie Euphemismen und Propaganda die Tötung von Zivilisten in Gaza akzeptabel erscheinen lassen

Von Adam Raz und Assaf Bondy

Worte dienen in der Politik nicht nur dazu, Realität zu beschreiben, sondern sie zu erschaffen. In Kriegszeiten, in denen Regierungen besonders darauf bedacht sind, ihre Legitimität zu stärken, wird Sprache oft zu einer Waffe der Massenbeeinflussung, um das Töten als moralischen und notwendigen Akt darzustellen. Der anhaltende Krieg Israels im Gaza­streifen ist ein Musterbeispiel dafür, wie fein justierte Propaganda durch die Manipulation von Sprache und Bedeutung Zustimmung für Gräueltaten erzeugt.

Am Abend des 7. Oktober – als die Israelis sich der entsetzlichen Aufgabe gegenübersahen, die Opfer des schreckenerregenden Massakers der Hamas zu zählen – kündigte Premierminister Benjamin Netanjahu bereits in seiner ersten Ansprache an die Nation in bildhafter Sprache an, was das israelische Militär im Gazastreifen nun zu tun gedenke. Er verwendete den erstmals in der Bibel gebrauchten Ausdruck „in Schutt und Asche legen“. Für Hebräischsprachige gab es keinen Zweifel daran, was damit gemeint war. In den folgenden Tagen fügten viele Minister – darunter der damalige Verteidigungsminister Joav Galant und hochrangige IDF-Offiziere – ihre eigenen Überlegungen hinzu, was Israel im Gazastreifen tun werde, auch die Aushungerung der Bevölkerung wurde erwähnt. Politisch ist das bemerkenswert: Die Entscheidungsträger kündigten an, dass sie Gaza zerstören würden, und sie handelten entsprechend, um ihr Versprechen zu erfüllen. Sie täuschten die Öffentlichkeit nicht, sie sagten die Wahrheit, unverblümt.

Die Absichten wurden offen erklärt, die Öffentlichkeit hörte zu, legitimierte in den folgenden Tagen die Umsetzung dieser Absichten und arbeitete teils sogar daran mit. Diese Legitimierung zeigte sich an der raschen Veränderung des gesellschaftlichen Diskurses, der die Zerstörung Gazas unterstützte und rechtfertigte; eine beispiellose Zahl von Meldungen zur Reserveeinberufung bezeugte die Zustimmung vieler.

Die schrecklichen Folgen dieser Versprechen und ihrer Umsetzung sind der verwüsteten Landschaft Gazas abzulesen. Die Brutalisierung der Gesellschaft folgte einem vorhersehbaren Muster: (a) Die Regierung entmenschlichte den Feind; (b) Entscheidungsträger genehmigten den Einsatz massiver und unverhältnismäßiger Gewalt gegen die Bewohner Gazas und mobilisierten die Öffentlichkeit dafür; (c) Gewalttaten wurden durch Befehle von Regierung und Militärs zu Routine. Obwohl die drei Phasen in aller Öffentlichkeit stattfanden, werden die Maßnahmen und ihre Folgen ignoriert oder geleugnet.

Der Krieg um Worte und Bedeutungen

In Kriegszeiten spielt Sprache eine zentrale Rolle. Ein demokratischer Staat muss sich im Krieg nicht nur mit technischen, militärischen und rechtlichen Fragen (etwa dem Völkerrecht) auseinandersetzen, sondern auch mit der „Mentalität“ – also dem kollektiven Bewusstsein – und dem politischen Diskurs. Der Staat muss sich seiner Legitimität beim Volk versichern, in dessen Namen er handelt. Diese Form der Legitimität ist dabei zwangsläufig durch Manipulation geprägt, da die Öffentlichkeit umfassender Informationen beraubt und auf Distanz gehalten wird. Sie ist sich des „Kriegs“ bewusst, aber über dessen Wirklichkeit weitgehend uninformiert.

So zeigt sich der Gaza-Krieg auch als Kampf um Worte und ihre Bedeutung. Es wäre nicht übertrieben zu sagen, dass es sich bei ihm auch um einen Krieg um den Charakter der israelischen Gesellschaft handelt. Es werden seitens der Regierung große Anstrengungen unternommen, neue Slogans und Begriffe zu erfinden und zu perfektionieren, um die grausame Realität zu verschleiern („freiwillige Migration“), um Konzepte in ihr Gegenteil zu verkehren („ein existenzieller Krieg um Israel“) und um mithilfe von Abstraktionen die Israelis davon abzuhalten, das konkrete menschliche Leid zu sehen („Kollateralschaden“).

Der Kriegsdiskurs versucht, eine gewalttätige soziale Realität zu verbergen, zu verschleiern und in eine zu verwandeln, mit der man leben kann, ohne ihre Moral in Frage zu stellen. „Humanitäre Zonen“ im Gazastreifen etwa sind Orte ohne Menschlichkeit, an denen Tausende von Zivilisten bombardiert werden. Die von Israel in den ersten Wochen nach dem 7. Oktober durchgeführte Kampagne der „strategischen Bombardierung“ verschleiert den Tod ganzer Familien in den Trümmern ihrer Häuser. „In Gaza gibt es keine Unbeteiligten“ ist eine seit dem 7. Oktober in Israel weit verbreitete Auffassung, die mit einem Taschenspielertrick versucht, die Tötung Tausender Zivilisten und einer überwältigenden Zahl von Kindern zu rechtfertigen.

„Humanitäre Zonen“ im Gazastreifen sind Orte ohne Menschlichkeit

Im Kriegsdiskurs erscheint die Bombardierung einer mit palästinensischen Flüchtlingen überfüllten Schule als notwendige, logische und sogar moralische Handlung. Sprache schafft eine alternative Realität. Sie bringt uns dazu, uns mit Handlungen abzufinden, die unter anderen Umständen unser Gewissen belasten würde.

Die seit zwei Jahren in Israel zu beobachtende systematische Sterilisierung der Bedeutung gewalttätiger Handlungen folgt der Strategie, menschliches Leid aus den Begriffen auszuklammern. Wenn Minister dazu aufrufen, „Gaza dem Erdboden gleichzumachen“, verbirgt sich hinter der architektonischen Metapher die Möglichkeit, dass Gebäude samt der in ihnen wohnenden Menschen zerstört werden. Wenn Politiker von Mitte- und Rechtsparteien von „freiwilliger Migration“ oder von der Errichtung einer „Riviera“ in Gaza sprechen, verschleiern sie den Plan, eine Bevölkerung aus ihren im Krieg zerstörten Häusern zu vertreiben. Hinter dem Begriff „Kollateralschaden“ verbergen sich die Gesichter toter, „unbeteiligter“ Kinder.

Sprachliche Sterilisierung ermöglicht die Ausweitung und Eskalation von Kriegen. Wie George Orwell beobachtete: „Die Sprache der Politik – das gilt in unterschiedlicher Form für alle politischen Parteien, von den Konservativen bis zu den Anarchisten – ist darauf ausgerichtet, Lügen wahr klingen und Mord respektabel erscheinen zu lassen und so heißer Luft den Anschein von Substanz zu verleihen.“

Eines der rhetorischen Mittel, um das Sprechen über den Krieg zu kontrollieren, ist die Forderung nach Symmetrie. Jede Kritik an Israels Handlungen muss mit einer ebenso scharfen Verurteilung der Handlungen des Feindes einhergehen. Diese Forderung ist ein Mechanismus, um wirksame Kritik abzuwehren, da sie auf der Annahme basiert, dass es keinen Unterschied zwischen den Parteien gibt, dass die enorme Kluft in Bezug auf Macht, Ressourcen oder Opferzahlen keine Rolle spielt. Wenn Symmetrie erzwungen wird, ist die Wahrheit das erste Opfer. Kritische Stimmen werden als „extrem“, „einseitig“ oder sogar „verräterisch“ definiert, während die offizielle Darstellung als „ausgewogen“, „durchdacht“ oder „staatsmännisch“ präsentiert wird.

Eine der zentralen Erzählungen in jedem Krieg, und insbesondere in diesem Krieg, ist die Behauptung, „keine Wahl“ zu haben – die Behauptung also, dass die gewalttätige Realität notwendig, unvermeidbar und alternativlos ist. In der Tat gibt es Zeiten und Umstände, in denen der Einsatz von Gewalt notwendig ist. Aber es gilt Gesetze zu achten, verhältnismäßig zu handeln – und es gibt diplomatische Alternativen. Dennoch hat die israelische Regierung wiederholt darauf beharrt, dass es keine Alternative zu dem von ihr eingeschlagenen Weg gibt.

Innerhalb dieses narrativen Rahmens führt jede Kritik zur Gegenfrage: „Was schlagen Sie stattdessen vor?“ Als ob grundlegende moralische Standards und das humanitäre Völkerrecht keine konkreten und klaren Vorschläge wären und als ob jede Kritik bereits einen exakt ausgearbeiteten Plan zu einer Lösung formulieren müsste. Auch die Symmetrieforderung ermöglicht die Legitimierung von Handlungen, die in anderen Zusammenhängen als inakzeptabel empfunden würden. Im Gaza-Krieg diente die Behauptung, „keine Wahl“ zu haben, dazu, eine Politik der totalen Zerstörung, Aushungerung, Massentötung und Verhinderung humanitärer Hilfe sowie die Ablehnung von Waffenstillstandsabkommen und Geiselfreilassungen zu rechtfertigen. Der gesellschaftliche Diskurs ist zu einem Käfig geworden, der die Grenzen des Denkens absteckt und den Raum für abweichende Meinungen einschränkt.

Ein Feld voller Sonnenblumen vor den Hausruinen von Gaza Foto: Menahem Kahana/afp

Wenn angeblich nur noch zur Wahl steht, zu zerstören oder zerstört zu werden, wird die Möglichkeit, sich einen Raum der Koexistenz, der Versöhnung oder zumindest der Beendigung der Gewalt vorzustellen, verwehrt. Wer sich ein Ende des Tötens wünscht, muss also die Brutalität aufdecken, die sich hinter dem gängigen Diskurs in Israel und Deutschland verbirgt, und auf die Mechanismen der Verleugnung, des Schweigens und der Rechtfertigung hinweisen, die die Fortsetzung des Krieges ermöglichen. Die Erzählungen und manipulativen Sprachregelungen, die sich in den Medien, der Politik und im täglichen Sprechen verbreitet haben, müssen demontiert werden. Wie Victor Klemperer gezeigt hat, operiert die Beeinflussung mittels Sprache nicht nur durch offene Lügen, sondern insbesondere durch sprachliche Manipulation, die besonders in Krisenzeiten wirksam sind, wenn kollektive Ängste und Identifikationen die Fähigkeit zur kritischen Analyse der Botschaften, „Fakten“ und Positionen schwächen.

In Kriegszeiten, in denen der Konsens gestärkt und kritisches Denken geschwächt wird, ist es wichtig, den hegemonialen politischen Diskurs zu sezieren. Angesichts des Gefühls von Dringlichkeit und Not und der damit einhergehenden Vorstellung, „keine Zeit“ zu haben – keine Zeit zum Nachdenken, keine Zeit zum Abwägen, keine Zeit zum Diskutieren von Alternativen –, müssen wir ein anderes Denken vorschlagen, das nicht zu schnellen und gewalttätigen Handlungen drängt. Wenn Wörter ihrer Bedeutung beraubt und mit neuen Bedeutungen versehen werden, ist die Demokratie selbst bedroht. Demokratie lebt von präziser und freier Sprache – deren Funktion nicht darin besteht, zu beschönigen oder zu verbergen, sondern darin, zu beleuchten und aufzudecken. Es gilt um das Recht zu kämpfen, die Dinge beim Namen zu nennen: Massentötung ist Massentötung, nicht „Reduzierung der Terrorinfrastruktur“; Transfer ist Transfer, nicht „freiwillige Migration“; Hunger ist Hunger, nicht „Verhinderung von Hilfe für den Feind“.

Inzwischen ist sogar das Wort „Krieg“ politisch aufgeladen. Ist das, was in Gaza geschieht, wirklich ein Krieg? Würden wir es als „Kampf“ bezeichnen, wenn ein Erwachsener ein wehrloses Kind auf der Straße angreift? Anstatt von „Krieg“ zu sprechen, sollten wir vielleicht überlegen, ob „Genozid“ nicht ein passenderer Begriff ist.

Aus dem Englischen von Ulrich Gutmair

Adam Raz ist Historiker, Assaf Bondy Soziologe. Die beiden Israelis sind Co-Autoren des eben auf Hebräisch erschienenen Buchs „Das Lexikon der Brutalität: Schlüsselbegriffe des Gazakriegs“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen