Das Grundgesetz als Inspiration: Eigentum, Mutter-Frust und Tierrechte
Im literarischen Kommentar zum Grundgesetz von Georg M. Oswald interessieren sich die meisten Schriftsteller:innen gar nicht für die Verfassung.
Es ist ein spannendes Experiment. Der Schriftsteller, Verlagslektor und Jurist Georg M. Oswald hat den ersten „literarischen Kommentar“ zum Grundgesetz herausgebracht. Ein Lesebuch mit Überraschungen, das aber erstaunlich wenig mit der Verfassung zu tun hat.
Derzeit gibt es mehr als zehn juristische Kommentare zum Grundgesetz. Das sind dicke Bücher, oft mehrbändig, die das Grundgesetz erläutern. Solche Kommentare stellen zu jeder Norm zusammen, was sich der Gesetzgeber gedacht hat, was die Gerichte daraus gemacht haben und was die Rechtswissenschaft dazu diskutiert. Für jeden Grundgesetzkommentar schließen sich Dutzende Jurist:innen zusammen.
Nun also ein „literarischer Kommentar“. Auch Georg M. Oswald hat ein großes Team zusammengestellt. 23 Schriftsteller:innen, 7 Journalist:innen und sogar 7 hochrangige Jurist:innen, inklusive Andreas Voßkuhle, Ex-Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Jede:r ist für einen Grundgesetz-Artikel zuständig – und darf dazu schreiben, was ihm oder ihr einfällt. Der Verzicht auf ein Konzept ist das Konzept; so erzeugt man Abwechslung.
Wer sich wirklich für das Grundgesetz interessiert, muss die Beiträge der Rechtsprofessor:innen und Richter:innen lesen. Sie bemühen sich redlich, den Inhalt der Verfassung verständlich zu erklären. Dass Grundrechte nicht absolut gelten, dass der Staat durchaus eingreifen darf, aber nur via Gesetz und nur im Rahmen der Verhältnismäßigkeit. Auch die Schriftstellerin Terézia Mora hat zu Artikel 6 (Ehe und Familie) eine passable, fast schon konventionelle Erläuterung vorgelegt.
Georg M. Oswald (Hg.): „Das Grundgesetz. Ein literarischer Kommentar“. C. H. Beck, München, 382 Seiten, 26 Euro
Die große Mehrheit der Beiträge setzt sich jedoch nicht mit dem Grundgesetz auseinander. Was bleibt, ist eine Sammlung von Beiträgen, die sich mehr oder weniger assoziativ von ihrem jeweiligen Grundgesetzabschnitt inspirieren lassen.
So befasst sich Eva Menasse nicht mit dem Brief- und Fernmeldegeheimnis, sondern mit der „Schönheit des Briefeschreibens“ – als Dissidenz zur heutigen hektischen Digitalkommunikation. Anna Katharina Hahn schreibt sich ihren Mutter-Frust über den Zustand des Schulwesens von der Seele. Und Jochen Schmidt überlegt mit Pennälerhumor, was er als Bundeskanzler ändern würde („Autohupen sollten Furzgeräusche machen“).
Doch es gibt auch wichtige Beiträge in diesem Band. Essays, die zu ihrem Thema mit ungewohnten Perspektiven oder großer Eindringlichkeit beitragen. So schildert Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, wie sie im kommunistischen Rumänien als Ausgegrenzte ihre Würde bewahren konnte. Feridun Zaimoglu beschreibt, wie er sein „deutsches Leben“ von linken und rechten Identitären bedroht sieht. Der Lektor und Übersetzer Wolfgang Matz unterstreicht die Notwendigkeit von legalen Arbeitskämpfen und verweist literarisch auf Hauptmanns „Weber“ und Brechts „Heilige Johanna der Schlachthöfe“. Literaturkritiker Ijoma Mangold widerspricht der Anarchisten-These „Eigentum ist Diebstahl“ und sieht das Eigentum schon im Ursprung als Ausweis von Tüchtigkeit. Auch ideologisch ist also Vielfalt geboten.
Höhepunkt ist aber der Beitrag von Hilal Sezgin, die die menschenfixierte Verfassungsordnung kritisiert und „Grundrechte für Tiere“ einfordert. Man muss daran keinen Halbsatz richtig finden, aber sie nimmt die Verfassung als Ort von Grundsatzentscheidungen ernst und präsentiert einen radikalen juristischen Gegenentwurf. Gerade von Schriftsteller:innen hätte man mehr derartige Fulminanz erwartet.
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