Das Distinktionsversprechen der Mode: Aggressiv unmodisch
Billig- und Luxusästhetik gleichen sich immer mehr. Was kommt nach der Hässlichkeit, wenn selbst Langeweile schon passé ist?
Im Vorspann zum Interview mit dem ehemaligen Interpol-Bassisten Carlos Dengler fiel einmal die Randnotiz, der Musiker sei in geradewegs „aggressiv unmodischen“ Komfortschuhen erschienen. Und das ließ aufmerken, stand doch Dengler noch in den frühen 2000er Jahren im strengen New Wave-/Militaria-Look mit rasiermesserscharfer Haarkante auf der Bühne und trug anschließend ebenfalls noch vor dessen allgemeiner Trendwerdung freundlichen Preußen-Look mit Schnurrbart. Nun also Outdoorbekleidung, allerdings offenbar nicht von der modischen Sorte.
Einen ähnlichen Aha-Effekt hält heute ein Blick in die Kollektionen der einschlägigen Designerlabels bereit, wo man sich plötzlich stellenweise im Schuhdiscounter oder auf dem Wühltisch vergangener Jahrzehnte wähnt. Als unsere Mütter mangels finanzieller Möglichkeiten vor einigen Jahrzehnten das Beste aus dem Geld rauszuholen versuchten, da schaute die Garderobe bisweilen unfreiwillig so aus wie jetzt die Modelle bei Alaïa, Givenchy oder Jimmy Shoo.
Gerade die nicht restlos hippen, auf eine vergleichsweise konservative Klientel schielenden Labels scheinen aktuell gar nicht genug bekommen zu können von seltsam angebrachten Schnallen, unmotivierten Strass-Applikationen und ähnlichem Tand. Ähnliches kennt man seit einer Weile vom Label Balenciaga, das seinen Ruf als Anbieter gut dosierter Billigladen-Sexyness ohnehin schon gut gefestigt hat.
Verwertet werden hier eben nicht mehr die schön übertriebenen Extravaganzen, die man sich leisten können muss. Verwertet werden die ungewollten Kennzeichen, die man sich bis vor Kurzem noch leisten musste. Aber vielleicht denkt man das immer, wenn es die eigenen ehemaligen Stigmata trifft, die nun modisch umgedeutet werden. Nachdem das modische Potenzial der Funktionskleidung abgeschöpft ist, fallen nun die scheinbar letzten Bastionen – die, die also nie jemand wirklich begehren wollen konnte.
Passend dazu erschienen jedenfalls manche Farbschöpfungen der letzten ein, zwei Jahre tatsächlich als regelrechter Verzweiflungsschrei im Textildickicht: ungesund schimmerndes Orange und ätzendes Grün, kaum knallig genug, um jemals Neon gewesen zu sein, das jegliche Aussicht, irgendwann einmal ernst zu nehmender Trend zu werden, schon mit dem Eintritt in die Warenwelt selbst zu Grabe getragen hat.
Was danach kam, konnte nur noch abfallen
Die Zeichen werden subtiler auf einer vorgeblichen Metaebene verhandelt. Oder in postironischer Geste dann schon wieder völlig emphatisch abgefeiert: Selbst bei Ralph Lauren will man jetzt woke, also wach und politisch bewusst sein statt preppy. Und so werden per Gastkollektion kitschige Teddybären-Pullis ins ansonsten zuverlässig Segelbootsausflüge und US-Privatinternate ausstattende Bekleidungssortiment gehievt.
Das Label Vetements wiederum hatte spätestens mit den dottergelben DHL-Shirts und -Kleidern 2016 sowohl das Ende der Hässlichkeitsfahnenstange wie jene ironischer Gesten erreicht. Und noch etwas: Man hatte zielsicher ein aktuelles Zeichen der Globalisierung und zugleich dessen ausführenden, hiervon vermutlich noch am wenigsten profitierenden Laufburschen, die oft prekär beschäftigten Auslieferer, zum kurzweiligen Modehype verwertet. Was danach kam, konnte nur noch abfallen.
Die Suche nach modischer Distinktion wird nicht einfacher. Gut möglich, dass es sich bei obiger Beobachtung nur um ein weiteres, symptomatisches Zerfallsprodukt des großen Versprechens Mode handelt, nach und neben Normcore, der Entdeckung der Langeweile als radikale Absage an jegliches Wollen und Begehren, und den über-gestalteten Ugly Sneakers. Was kommt nach der Hässlichkeit, wenn selbst Langeweile schon passé ist?
Jenes Anything-goes-Diktum, ohne das umgekehrt tatsächlich nichts geht beziehungsweise denkbar ist, fordert sein Tribut. Die Mode ist ein schwieriges Untersuchungsobjekt, das dem Zugriff immer wieder entgleitet. Es ist ihr Modus operandi, die Zeichen verwandeln zu können, umzudrehen gar. Da erwischt es mal solche, die sich erfolgreich verwandeln lassen, und andere, mit denen das weniger gut gelingt.
Aber wenn alles nur noch eine endlose Reihung von Insider-Jokes bleibt und nichts eine gewisse Durchschlagskraft erreicht, spricht man dann überhaupt noch von Mode? Haben wir es gar mit einem prophetischen Hinweis aufs nahende Ende der Zirkulationsmöglichkeiten zu tun, oder dreht sie bloß eine weitere Volte, die erst im Rückblick erkennbar wird?
Die Ledertasche im Aldi-Look des Schauspielers Lars Eidinger
Womöglich hat die Designer-Ledertasche im Aldi-Look des Schauspielers Lars Eidinger neulich auch deshalb so viel Kritik auf sich gezogen, weil sie das gängige Mittel der Aneignung nicht mehr nur geografischer, kultureller und subkultureller, sondern zunehmend auch ökonomischer Codes nicht einmal mehr leidlich kaschiert. Je schwächer die Gesten und Zeichen, umso heftiger wird um sie und das Anrecht hierauf gestritten.
Es ist heute eben nicht mehr wie in der Ständegesellschaft und noch nicht einmal mehr wie in den 90er Jahren, in denen man sich einigermaßen bemühen musste, als ökonomisch schlechter gestellter Mensch nicht erkannt zu werden. Was zweifelsfrei eine wunderbare Sache ist! Modedesigner und Trendmacher aber offensichtlich vor Probleme stellt. Weil selbst billig heute teuer ausschauen kann, muss das Teure billig erscheinen.
Vielleicht wird die Ästhetik des Armseins in Mord- und Totschlagserien wie journalistischer Berichterstattung auch deshalb umso genussvoller zelebriert, weil allen Beteiligten dämmert, dass die ökonomische Unterscheidung der Mitmenschen und die Abgrenzung zu ihnen schon lange nicht mehr so einfach funktioniert (Tenor: je ästhetisch abstoßender der „Lifestyle“ jener Täter, die in Trailerparks, Messiewohnung oder dem deutschen Äquivalent Dauer-Campingplatz hausen, umso schlimmer das Verbrechen)?
Aufschlussreiche Beobachtungen zur Frage, wie Begehrlichkeiten heute noch geweckt werden können und wie sich Billig- und Luxusästhetik dabei zusehends verschränken, hält auch der Bildband „The New Luxury: Defining the Aspirational in the Age of Hype“ des Gestalten-Verlags bereit. Er versammelt viele Beispiele, wie außergewöhnliche High Fashion in aktueller Gemengelage funktionieren kann – aber eben partikular: Moncler Genius gestaltet kunstvoll gefaltete Daunendecken-Kleidung, Louis Vuitton liebt bunte Plastikketten, und die Straße spielt sowieso fast immer die Hauptrolle.
An einer Stelle des Bildbands findet man sich an einem Straßenstand mit seinen obligatorischen karierten Riesenplastiktaschen neben (aha!) gelben DHL-Containern wieder und hat damit eine mögliche Erklärung für die Aufwertung der Nippes-Ästhetik: Jetset ist heute nicht mehr, wer die schicksten Boutiquehotels bewohnt, sondern wer auch einfach einmal so in einer aus den Boden gestampften Fly-over-Millionenstadt Asiens oder Afrikas umherziehen darf.
Das vermeintlich unmodische Modische
Doch kann kein Mensch je so frei flottieren und diffundieren wie die Kapitalströme, denen er seine Reise an entlegene Un-Orte verdankt, denn er ist ja immer noch aus Fleisch und Blut und muss sich daher irgendwie einkleiden. Auch die Mode, die sich aus Ideen und Sehnsüchten speist, ist wie ihre Träger_innen an Materie gebunden. Das verflüssigte Zeitalter muss wenigstens für einen Augenblick kristallin werden, was ob des Tempos in alle Richtungen zunehmend schwierig wird.
Gut möglich also, dass Carlos Dengler mit seiner Schuhwahl zum Interviewtermin sehr wohl – unbeabsichtigt – mit der Haltung des Modevisionärs handelte, indem er schon vor einigen Jahren eine Ahnung davon hatte, dass, weil restlos alles Mode werden kann, womöglich nur noch modisch sein wird, was den Unwissenden geradewegs wie eine Absage an jene erscheint.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Ampel-Intrige der FDP
Jetzt reicht es sogar Strack-Zimmermann
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut
Antisemitismus in Berlin
Höchststand gemessen
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“