Das Berliner Ensemble Zeitkratzer: Respektvolle Verneigung
Immer wieder neugierig: Das eigentlich der Neuen Musik zugeordnete Berliner Ensemble Zeitkratzer stellt sich dem Jazz auf ihrem neuen Album.
Jetzt also Jazz. Es gehört ja zum Markenkern des Berliner Ensembles Zeitkratzer, dass man nicht einmal erahnen kann, welches musikalische Material es sich als Nächstes einverleiben wird. Stockhausen und John Cage haben sich die MusikerInnen bereits gewidmet, aber auch den für ein Ensemble aus dem Bereich der Neuen Musik nicht ganz so nahe liegenden Power-Electronics der Band Whitehouse. Das als eher randständig betrachtete Werk „Metal Machine Music“ von Lou Reed haben sie neu eingespielt, und auf ihrem bislang letzten Album drehte sich alles um Kraftwerk.
Aber auch hier ging es Zeitkratzer-typisch nicht um deren Hits, das Ensemble will schließlich mehr sein als eine Coverband, die dann auch mal „Autobahn“ in origineller Instrumentierung nachspielt, sondern um das Frühwerk der Düsseldorfer Band, das nur ein paar eingeweihten Krautrockfans etwas sagt.
Aber nun, auf ihrem ersten Album, das sich um Jazz dreht, machen die MusikerInnen es doch. Sie spielen tatsächlich ein paar alte Gassenhauer nach, bereits zigfach neu interpretierte Klassiker wie „Cry Me a River“, „Strange Fruit“ und „My Funny Valentine“. Die Frage, die man sich beim Hören ihrer ganzen Platte mit dem Titel „The Shape of Jazz to Come“ stellt, lautet natürlich: Spielen Zeitkratzer Jazz oder machen sie Jazz? Und man muss sagen: Ja, sie machen Jazz. Es darf frei improvisiert werden, und wenn eine Dixieland-Nummer wie „Struttin’ with Some Barbecue“ von Lil Hardin Armstrong intoniert wird, hört sich das tatsächlich auch ein Stück weit an wie Dixieland-Jazz.
Entstanden sind die Aufnahmen, die nun auf „The Shape of Jazz to Come“ zu hören sind, bereits vor zwei Jahren. Zeitkratzer, ein aktuell neunköpfiges Ensemble unter der Leitung des Pianisten Reinhold Friedl, taten sich für einen Festivalauftritt in Krakau mit Mariam Wallentin zusammen, einer schwedischen Jazzsängerin, die aber auch bekannt ist als Teil des Avant-Folk-Duos Wildbirds & Peacedrums. Die nun vorliegende Platte ist ein Mitschnitt dieses Konzerts. Dass man es mit einer Liveaufnahme zu tun hat, ist jedoch kaum zu hören, bis zum Ende des Albums, als Mariam Wallentin in „My Funny Valentine“ einsteigt, was ein begeisterter Zuhörer mit einem Ausruf quittiert.
Spiele mit versteckten Verweisen
Die Platte von Zeitkratzer ist eindeutig eine Hommage, eine respektvolle Verneigung vor einer Kunstform in all ihren Facetten und Entwicklungsstufen. Das geht schon los mit dem Titel: „The Shape of Jazz to Come“, so hieß auch ein Album von Ornette Coleman aus dem Jahr 1959. Dann die Besetzung: Unter anderem sind Altsaxofon und Bassklarinette zu hören, dazu gleich zwei Kontrabassspieler. So wie es Coleman auf seinem bahnbrechenden Album „Free Jazz“ machte, ein Jahr nach „The Shape of Jazz to Come“.
Zeitkratzer: „The Shape of Jazz to Come“ (Zeitkratzer Productions)
Zeitkratzer lieben derartige Spiele mit versteckten Verweisen und Codes. Dass von Coleman selbst gar keine Komposition auf dem Album nachgespielt wird, passt da nur ins Bild.
Mit Coleman wird ein Musiker gewürdigt, der dem Jazz alle Türen öffnete. Nach ihm war alles möglich, die Formalitäten des Bebop wurden aufgelöst, der Free Jazz brachte unendliche Freiheiten. Die dann auch jemand wie Muhal Richard Abrams zu nutzen wusste, Gründer der Musikervereinigung Association for the Advancement of Creative Musicians in Chicago. Mit einer Interpretation dessen Komposition „Bird Song“ steigen Zeitkrater ein in ihr Album. In dem fast 15 Minuten langen Stück entfaltet das Ensemble bald herrlichen Krach, versteigt sich wie im Original in eine Kollektivimprovisation und Mariam Wallentin lässt dazu ihr Stimmorgan warm laufen.
Mit Abrams erweist der Zeitkratzer-Leiter Friedl außerdem einem Komponisten Reverenz, den er außerordentlich zu schätzen scheint. Eben erst hat er eine Platte mit dessen Arbeiten im Bereich der elektronischen Musik zusammengestellt.
Aus der Feder von Frauen
Jazz ist längst ein globales Musikidiom. Zeitkratzer aber nähern sich ihm als Ausdruck der afroamerikanischen Kultur. Sämtliche der Kompositionen stammen aus den USA. Seit mehr als hundert Jahren gibt es diese Musik. Entstanden ist sie in den Juke Joints im Südosten der USA, was mit dem „Jelly Roll Blues“ von Sweet Emma Barrett nochmals aufgezeigt wird, wo die Klarinette jubilieren darf, die im modernen Jazz so gut wie ausgestorben ist.
Und sie wurde zum auch politischen Ausdruck des Kampfes Schwarzer Menschen gegen Unterdrückung. Daran erinnert vor allem „Strange Fruit“, am bekanntesten in der Gänsehaut-Version von Billie Holiday, wo von den Früchten gesungen wird, die von den Bäumen hängen, womit nichts anderes gemeint ist als gelynchte Afroamerikaner, die aufgehängt wurden.
Interessant ist, dass beinahe die Hälfte der von Zeitkratzer interpretierten Stücke aus der Feder von Frauen stammen, was in Anbetracht der anhaltenden männlichen Dominanz im Jazz auch eine Aussage oder fast schon eine Korrektur der offiziellen Jazzgeschichtsschreibung ist.
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