Das Aktionshaus in Berlin-Tempelhof: Grill dir deinen eigenen Spieß
In einem Berliner Industriegebiet liegt das Aktionshaus. In diesem Projektraum geht es ums gemeinsame Ausprobieren und die Freude am Provisorischen.

Genug Platz ist jedenfalls da auf den rund 200 Quadratmetern, mitten im Tempelhofer Industriegebiet, hoch oben im 8. Stock eines mintgrünen Bürobaus aus den 1990er Jahren. Von außen wirkt das Gebäude funktional – ein nüchterner Baukasten mit symmetrischen Fensterreihen, zwischen Pkw-Verschrottung, Lagerhallen und Stadtautobahn. Zehn Busminuten vom S-Bahnhof Hermannstraße entfernt, ist es seltsam ruhig hier, fast menschenleer. Wer es nicht besser weiß, würde kaum vermuten, dass es im obersten Stock regelmäßig aktionistisch zugeht.
Ein Musik-Fachhandel, in dem man zwischen DJ-Sets Kassetten bespielen und eigene Cover drucken kann. Eine Olympiade, bei der es schon vor dem Startschuss Medaillen gibt – zum Beispiel fürs möglichst langsame Fahrradfahren. Eine Ausstellung, bei der sich die essbaren Kunstwerke langsam auflösen.
All das passiert im Aktionshaus: einem Ort, der zu hell ist für einen Club, zu nonchalant für eine Galerie. In diesem Projektraum entsteht immer wieder Neues, weil alle mitmachen dürfen. Nicht nur die Lautesten oder die mit dem schönsten Bild. Es geht es ums Ausprobieren, ums gemeinsame Tüfteln und um die Freude am Provisorischen. Hauptsache, es wuselt.
In den Aufzug steigen lohnt sich: Panoramaausblick, charmantes Turmzimmer und richtig viel Platz. Obwohl das Aktionshaus alles andere als ein Penthouse ist, hat der Raum auf den ersten Blick etwas Luxuriöses. Von drückender White-Cube-Stille jedoch keine Spur – dafür sorgen wild bepflanzte Blumenkästen auf dem Balkon, ein getigertes Retro-Rundsofa in der Ecke und der Duft von frisch gegrilltem Gemüse und Sauerteigbrot, der hier an einem Frühsommertag vom Balkon aus in den Raum schwebt.
1. August 2025. Live-Konzert und DJ Set mit Sloe Paul und CV Vision, ab 19 Uhr. Aktionshaus, Gottlieb-Dunkel-Straße 44 (8. Stock, Ost)
Manchmal wollen Leute ihre Schuhe ausziehen
Charlotte Kehl und Juri Bader flirren an diesem sonnigen Samstag zwischen nostalgischer Minibar, kleinen Gesprächsinseln und Balkon-Grillstation hin und her.
Gemeinsam leiten sie den Projektraum. An besagtem Samstag haben sie ihn mit spürbarer Detailverliebtheit in einen Infopoint für Besucher*innen von umliegenden Künstler*innen-Studios verwandelt. Die wenigen, ausgewählten Möbelstücke stammen entweder aus dem Familienerbe oder wurden über Kleinanzeigen ersteigert. Und dann ist da noch ein massives Soundsystem, das später am Abend von Künstler Yab mit experimenteller Elektromusik bespielt wird. Musik ist im Aktionshaus mehr als nur akustische Untermalung – sie verbindet. Ob durch Live-Acts oder mit der Leidenschaft für analoges Produzieren, die von Bader betriebenen Labels Beatbude und Tax Free Records sind fester Bestandteil fast aller Aktionen.
Obwohl es im Aktionshaus regelmäßig laut wird, strahlt der Raum etwas Leises, Liebes aus. „Manchmal wollen Leute ihre Schuhe ausziehen“, erzählt Bader fast ein bisschen stolz. Besonders für introvertierte Personen sei die Kulturbranche oft herausfordernd – viele Begegnungen blieben oberflächlich: „Wir wollen keine klassische Vernissage-Situation, wo Kunst konsumiert wird, man wieder geht und sich nicht verbunden hat.“ Stattdessen soll das Gefühl vermittelt werden, jederzeit mitgestalten zu können. Auch an diesem Tag gibt es kleine, partizipative Baustellen im Aktionshaus: „Grill dir deinen eigenen Spieß oder entdecke die Umgebung mit dem Fernglas.“ Auf bunten Papieren können Eindrücke notiert und Fragen ausgetauscht werden.
Die Idee zum Aktionshaus entstand inmitten der Corona-Pandemie – einer Zeit, in der es physische Räume zum gemeinsam Lautsein und Kreativwerden nicht geben durfte. Damals feilten Charlotte Kehl und Jana Maria Dohmann, die späteren Gründerinnen, an einem Konzept für die „Tummeltage“, einer alternativen Olympiade für Kinder. Dem klassischen Wettkampf sollte ein offenes, humorvolles Fest entgegengesetzt werden. In mehrtägigen Workshops erarbeiteten Kinder gemeinsam mit Künstler*innen absurd-liebenswerte Disziplinen. Zum Beispiel eine menschliche Version von „Schiffe versenken“ – mit kleinen, auf dem Volleyballfeld verteilten Stühlchen und einem selbstgenähten Vorhang, der über das Netz gespannt wurde. Ohne das gegnerische Team zu sehen, sollten kleine Wasserbomben auf die jeweils andere Seite des Spielfeldes bugsiert werden. Im Sommer 2023 wurden die „Tummeltage“ als erste Outdoor-Aktion des frisch gegründeten Aktionshauses umgesetzt. Wie bei allen Aktionen sollte ein Alltagsproblem – hier Konkurrenz – künstlerisch mit Neugier und Improvisation herausgefordert werden.
Ein selbstständiger Organismus
Mit ihrem Programm verfolgen Kehl und Bader eine klare Vision: Bewusst kuratieren sie nicht-normative Perspektiven, um unsichtbare Barrieren im Kunstbetrieb zu durchbrechen und gleichberechtigte Teilhabe zu fördern. Besonders wichtig sind ihnen ungehörte Stimmen, etwa die von Kindern. Erfahrungswissen soll genauso viel Platz haben wie akademisches Wissen. Ziel ist das gemeinsame Erforschen – und nicht irgendein statisches Endprodukt. Kunst in Aktion eben.
Meistens quartieren sich die Künstler*innen vor ihren Aktionen etwa eine Woche im Raum ein. Dabei dürfen sie wild schalten und walten, Wände anmalen, oder Löcher in die Wand bohren. Bader und Kehl lassen bewusst kreativen Spielraum, unterstützen aber mit ihren eigenen Erfahrungen und Ideen: „Wir haben dafür kein genaues Schema, sondern fühlen uns rein. Das dauert und ist aufwändig.“ Aber es lohnt sich.
Jede Aktion überrascht mit einem neuen Bühnenbild. Im Juni 2023 verwandelte sich der Raum durch den Künstler Lutger Lonin zum Beispiel in ein schrilles Pizza-„Schnellrestaurannte“. In Aktion standen nicht nur die Menükarte (gleichzeitig eine Buchveröffentlichung), sondern auch die Gäste, die pünktlich um 18 Uhr bereit für ihre Pizza- und Rotweinbestellungen waren: „Es ist ein selbstständiger Organismus, der funktioniert, weil alle mitmachen“, sagt Bader. „Ohne die Leute wäre es niemals so schön gewesen.“
Wie bei allem im Aktionshaus gilt: Wer eine Aktion machen will, packt von vorne bis hinten mit an – Freund*innen inklusive. Für Bader fühlt sich das fast familiär an: „Die gemeinsame Verantwortung macht was mit dem Raum, man fühlt sich weniger verloren – ein bisschen wie in einer WG.“ Auch wenn genau dieses Gemeinschaftsgefühl das Aktionshaus ausmacht, verstecken sich dahinter alt bekannte Probleme. Der Raum soll nicht-kommerziell sein, wird aber von Menschen geführt, die ihren Lebensunterhalt verdienen müssen: „Es ist total irre, sowas hier zu machen, so hobbymäßig im Ehrenamt.“ Mit Blick auf die Kulturkürzungen ergänzt Kehl: „Es ist traurig, dass man einerseits als Aushängeschild benutzt wird – auf diese kapitalistische Weise – und andererseits überhaupt nicht davon profitiert. Nachhaltig ist das nicht.“
Trotz aller Mühen strahlen die beiden, wenn sie von besonderen Momenten im Aktionshaus erzählen. Bei unserem zweiten Gespräch sitzen wir wieder auf dem Balkon und blicken auf die trist-romantische Industrielandschaft. Die Stimmung ist gediegen, heute mal keine Aktion im Gange. Nur in der Küche wird Kaffee gekocht und zum Spätstück gibt’s Schoko- und Honigwaffeln, liebevoll drapiert mit einem pinken Lolli. Tatsächlich fühlt es sich ein bisschen nach gemütlicher WG an – einem Ort, an dem Alltag und Kreativität zusammenkommen und immer frischer Wind weht.
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