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■ NachschlagDa kriegt die Seele, was sie braucht: Depeche Mode in der Waldbühne

Was tun, wenn die Kindheit gottlos verläuft? Wenn einem die Eltern die erste halbherzige Bibellektüre mit spöttischen Sprüchen vermiesen? Wenn sie statt dessen anbieten, einem das Konfirmationsgeld gleich so zu geben, ohne vorher die Prozedur der Taufe über sich ergehen lassen zu müssen? Wenn einem die eigene Mutter rät, nicht gleich mit der großen Liebe anzufangen, sondern erst mal eine ganze Handvoll Männer auszuprobieren, von wegen des bürgerlichen Monogamieirrglaubens und so?

Wer in den Genuß kommt, seine Jugend als armes Heidenkind zu verbringen, der hat auch heute noch ungefähr zwei Möglichkeiten. Er kann sich anpassen und Marx lesen, oder, was viel besser ist, er kann Depeche-Mode-Fan werden. Denn bei Depeche Mode findet das sehnsuchtswunde Herz alles, was es begehrt. Depeche Mode schenken dir die Idee von Liebe als großem Opfer, von echter Leidenschaft, ewiger Treue, Unterwerfung und religiöser Hingabe: Depeche Mode sind Heimat.

Auch an diesem Abend in der Waldbühne ist die Welt in Ordnung, die Familie vollständig, auch ohne den ausgestiegenen Alan Wilder, und als die drei die Bühne betreten, durchrieselt mich eine wohlige Wärme. Das kleine Stück Wald mit der Bühne hebt plötzlich ab und gleitet sachte wie ein Ufo zurück in die Vergangenheit. Dave Gahan trägt die Haare wieder wie früher, ein braves Hemd und eine Popperweste. Überhaupt scheint er seine Bühnenraserei, die vor fünf Jahren die Devotional-Tour so abgründig machte, völlig verarbeitet zu haben. Er singt die schönen alten Lieder, „Stripped“ und „Never Let Me Down Again“, mit leiser Ironie. Der altbekannte Schlachtruf zwischen den Refrains, der die Gemeinde toben läßt, kommt ihm höchstens dreimal über die Lippen. Am Mikro hält er sich lieber leicht täppisch und in wohl vertrauter Gestik fest, als es durch die Gegend zu wirbeln. Und auch die Bühne wirkt mit ihren drapierten Samtvorhängen eher rührend. Aber trotzdem: Die kitschbedürftige, nostalgiesüchtige Seele bekommt, was sie begehrt. Sie bekommt sogar ein paar ganz, ganz alte Songs, die nicht auf der Singles-CD sind, die jetzt bald rauskommt: „Somebody“, diese steinerweichende Ballade von Mädchenschwarm Martin, und „I Just Can't Get Enough“, eins der nettesten Kinderlieder aus der Sturm-und-Drang-Phase der Jungs. Und als Gahan ruft: „This one's for you!“, bin natürlich ich gemeint. Susanne Messmer

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