DIE WAHRHEIT: Der Stolz des Wirtes
Wie ich einmal den leibhaftigen Gregor Gysi traf.
Kurt hat ein gutes Herz und eine gute Küche. Seine Weinstube liegt in der Altstadt meines Heimatstädtchens, und Kurt ist hier einer der wenigen Abonnenten, wenn nicht der einzige, des Neuen Deutschlands. Kurt reist gern. Seiner Gesinnung gemäß ausschließlich in Länder mit kommunistischen oder ehemals kommunistischen Regierungen.
Prag nennt er seine zweite Heimat. Vor dem Mauerfall reiste er mehrmals im Jahr dorthin, er wusste, wo man am besten schwarz sein Geld tauschte, wo es das beste Essen und die billigsten Mosergläser gab.
Seine Wohnung gleicht einem Ausstellungsraum für die Glasmanufaktur Moser. Nach aktuellen Katalogpreisen sind sie heute ein Vermögen wert, wenn man denn einen Abnehmer findet. Als Kurt die Küche seiner Weinstube umbauen musste, fand er jedoch keinen Liebhaber für seine Sammlung und musste ein Darlehen aufnehmen. Die bleikristallenen Schätze verstauben derweilen in den Regalen.
Einmal begleitete ich Kurt auf einer seiner Reisen nach Riga. Abends wollte er unbedingt in eine Bar im Rotlichtmilieu. Allein, wie er mir versicherte, um die Stammtischgespräche in seiner Weinstube zu bereichern. Er bat um meine Begleitung. Also machten wir uns auf den Weg.
Bereits die bulligen Türsteher vereitelten beinahe unseren Besuch, ihre taxierenden Blicke machten Kurt Angst. Ich zog den Zögernden in das Etablissement, wo wir einer mäßig raffinierten Stripteasevorführung beiwohnten. Schließlich kam die Künstlerin mit einer Kollegin spärlich bekleidet an unseren Tisch. Wir waren zu der frühen Stunde die einzigen Gäste.
„Do you want any company?“, fragte die Strip-Dame Kurt und legte ihre Hand auf sein Bein. „No, no. I am from Germany“, stieß Kurt hervor, sprang auf und rief mir zu: „Auf, wir gehen. Ich habe genug gesehen.“ Ich kam dem Flüchtenden kaum hinterher.
Kürzlich traf ich Kurt in den Gassen der Altstadt unseres Städtchens. Voller Stolz erzählte er mir, dass sein Parteifreund, der verehrte Gregor Gysi, anlässlich einer Rundreise, bei ihm Halt machen würde. Ich solle unbedingt kommen, um ihn kennen zu lernen. Gregor Gysi kam tatsächlich in Kurts Weinstube, wo ich ihm vorgestellt wurde.
Ich weiß nicht, was mich ritt, aber ich konnte nicht anders: „Do you want any company?“, fragte ich Gysi. „No, no. I am from Germany“, stieß Gysi ängstlich hervor, sprang auf und rief Kurt zu: „Ich gehe. Ich habe genug gesehen.“ Kurt kam dem Flüchtenden kaum hinterher. Und seit diesem Tage ist Kurt sehr, sehr wütend auf mich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Berliner Kultur von Kürzungen bedroht
Was wird aus Berlin, wenn der kulturelle Humus vertrocknet?