Coronakrise in Brasilien: Die koloniale Maske der Stille
In Brasilien verbreitet sich das Coronavirus rasant. Die Regierung bleibt untätig. Die Präsident Bolsonaro treu ergebenen Eliten plündern den Staat.
D er erste durch das Coronavirus in Brasilien bekannte Todesfall ist der von Cleonice Gonçalves. Cleonice, eine Schwarze Frau, arbeitete als Haushaltshilfe. Sie arbeitete für eine Hausherrin, die im März in den italienischen Alpen Ski fahren war. Als diese Frau in ihre Wohnung in einem der teuersten Stadtviertel des Landes zurückkehrte, kannte sie bereits ihre Diagnose. Trotzdem beschäftigte sie Cleonice über das Wochenende. Cleonice begann sich schlapp zu fühlen. Als die Hausherrin das bemerkte, rief sie ein Taxi, das Cleonice zu ihrer Familie bringen sollte, die in zwei Stunden Entfernung am Stadtrand von Rio de Janeiro lebt. Cleonice starb wenige Stunden später.
Anfang Juni, während der Quarantäne, beschäftigte die Hausherrin Sari Corte Real in ihrer Wohnung in einem Luxusviertel von Recife im Nordosten des Landes die Haushaltshilfe Mirtes Souza, ebenfalls eine Schwarze Frau. Mirtes ist die zweite Generation ihrer Familie: Schon ihre Mutter hatte die eigene Familie damit ernährt, es anderen Familien mit schweißtreibender Arbeit gemütlich zu machen. Weil Mirtes auch während der Pandemie arbeiten musste, hatte sie keinen Ort, an dem sie ihren Sohn Miguel Otávio lassen konnte. Sie nahm ihn mit zur Arbeit.
An diesem Mittag Anfang Juni war die Hausherrin mit Maniküre beschäftigt. Sie wies Mirtes an, die Hunde auszuführen. Miguel blieb in der Wohnung. Als die Hausherrin begann, das 5-jährige Kind anstrengend zu finden, steckte sie es unbeaufsichtigt in den Aufzug und schickte es in den neunten Stock, dort befand sich ein Spielbereich für Kinder. Miguel ging, geriet an einer Brüstung aus dem Gleichgewicht und fiel aus dem neunten Stock, gerade als seine Mutter vom Spaziergang wiederkam. Sari musste auf die Polizeiwache, zahlte eine Kaution in Höhe von 5.000 Euro und durfte zurück nach Hause.
Seither haben sich bedeutende Teile der Wählerschaft von Präsident Jair Bolsonaro, die Militärpolizisten und Milizen (verantwortlich für die Demütigung schutzbedürftiger sozialer Gruppen), im gesamten Land verteilt. Bei all den Rückschritten während Bolsonaros Amtszeit fällt besonders die Polizeigewalt auf, die höchste in der Geschichte des Landes. Die brasilianische Polizei tötet so viel wie noch nie – das macht eine Debatte über den historischen Genozid der Schwarzen Bevölkerung dringlicher denn je. Schon 2016 wurde alle 23 Minuten ein junger Schwarzer Mensch ermordet. Diese Realität ist nicht in Quarantäne, sie hat sich nicht verändert.
Extreme Polizeigewalt
Der 13-Jährige João Pedro spielte an einem Tag im Mai mit seinen Cousins im Garten, um Abstandsregeln einzuhalten, als Schüsse aus einem Polizeigewehr seinen Körper durchbohrten. Sein Haus, in dem nicht vorbestrafte Menschen ein ruhiges Leben führten, wurde von 72 sogenannten verlorenen Kugeln der Polizei getroffen, vermeintlich versehentliche Querschläger.
Währenddessen trauern die indigenen Bevölkerungen um ihre Angehörigen, die getötet wurden, als sie ihre Ländereien verteidigten und gegen den Export von Soja und Rindfleisch protestierten. Die Kraft der Grundbesitzer in Brasilien spiegelt sich direkt in der Anzahl ihrer Vertreter im Nationalkongress. Vertreter, die Bolsonaro treu ergeben sind, die verantwortlich für den Putsch sind, durch den die linke Präsidentin Dilma Rousseff 2016 ihres Amtes enthoben wurde. Die verantwortlich sind für einen Diskurs, der Tote produziert. 2019 haben Indigene um Paulo Guajajara geweint, sie nannten den bekannten indigenen Umweltaktivisten ihren „Hüter des Waldes“.
An den im Namen der Landwirtschaft in Flammen stehenden Grenzgebieten des Amazonas werden indes unter Indigenen sukzessive immer mehr Fälle des Coronavirus bekannt. Das ist besorgniserregend. Inmitten all dieser Gefahren und Angriffe widerstehen die Indigenen tapfer und ohne viel Unterstützung von außen.
Schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen wie diese in Brasilien verdienen eine viel sichtbarere Reaktion aller Länder, die sich Demokratien nennen, die sich aber lieber mit staatlichen Unternehmen und Ressourcen beschäftigen, die die brasilianische Regierung zu Kolonialpreisen verkauft. Im Mai, inmitten der Pandemie, sprach der Wirtschaftsminister davon, die öffentliche Nationalbank zu verkaufen.
Postkolonialer Kampf
Seine Regierung ist eine, die unzählige brasilianische Unternehmen an US-amerikanisches, europäisches, arabisches oder chinesisches Kapital verkauft hat. An Länder, die angesichts von Bolsonaros Brutalitäten gerne betonen, wie grauenhaft das sei, die aber wenig sagen, wenn er die Kasse des Landes öffnet, um die blutverschmierten Reichtümer zu verkaufen.
Im antikolonialen Kampf muss dieser Zynismus dekonstruiert werden. Geschichten wie die in diesem Text erzählen ein wenig über dieses Land, können es aber nicht ansatzweise zusammenfassen. Von Lélia González, der großen Stimme des Schwarzen Feminismus in Brasilien und Pionierin in der Kommunikation transnationaler feministischer Bewegungen, haben wir gelernt, dass wir nicht nur den Schmerz teilen, sondern auch die Kämpfe und den Widerstand. Eine Bewegung, die längst nicht mehr aufgehalten werden kann. Mit meinen Büchern, von denen drei derzeit unter den meistverkauften des Landes sind, ehre ich das Wissen, das so lange unsichtbar gemacht wurde, und die Leben, die den Schwarzen, karibischen und lateinamerikanischen Bevölkerungen verwehrt wurden, und die Stimmen, die durch die koloniale Maske der Stille erstickt wurden, die aber jetzt immer lauter werden und Veränderungen vorantreiben, die diese Welt bald kennenlernen wird.
Mit unserer grenzüberschreitenden Gemeinschaft werden wir aus der aktuellen Realität in Brasilien eine Geschichte der Überwindung von faschistischen Bewegungen und Ungleichheiten machen, die unsere Gesellschaft so sehr prägen. Wir machen weiter.
Aus dem Portugiesischen von Simon Sales Prado.
Empfohlener externer Inhalt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter