Coronakrise in Brasilien: Virus trifft auf Armut

In São Paulo steigen die Infektionen, das Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps. Das trifft vor allem die Ärmsten in den Favelas und auf der Straße.

Zwei Frauen und ein Junge mit Mundschautz tragen Einkäufe auf einer erdigen Straße.

Covid-19 in Favelas: Brasilândia, Viertel in Sao Paolo, hat die höchste Sterblichkeitsrate der Stadt Foto: Andre Penner/dpa

Sao Paulo taz | Leandro Costa hievt eine Kiste mit Lebensmitteln aus einem Transporter. Der 30-Jährige ist Franziskaner-Mönch, seine Schutzmaske ist mit dem Braunton der Kutte farblich abgestimmt.

„Dort drüben steht unser Zelt der Solidarität“, sagt Costa und zeigt auf ein Konstrukt aus Metall und Plastik auf dem São Francisco-Platz in der Innenstadt von São Paulo. Hunderte Menschen stehen davor Schlange. Essen in Styropor-Behältern wird ausgeteilt, Hände werden desinfiziert, Mönche drängen sich durch das Gewusel.

Der vor rund 800 Jahren in Italien entstandene Franziskaner-Orden ist seit mehr als 500 Jahren in Brasilien aktiv. „Wir helfen schon immer denen, die am Rand der Gesellschaft sind“, sagt Costa. „Mit Beginn der Corona-Pandemie hat das Elend stark zugenommen.“ Laut Costa wurden vor der Krise täglich rund 800 Menschen versorgt, meist Obdachlose. Seit dem Ausbruch von Covid-19 im größten Land Lateinamerikas sind es täglich 2.600 Menschen. Brasilien hat bereits mehr als 16.000 Corona-Tote und eine der höchsten Ansteckungsraten der Welt.

Neben zwei warmen Mahlzeiten werden auf dem São Francisco-Platz auch Masken und Desinfektionsmittel verteilt. Die Stadtverwaltung hat mobile Toiletten und Duschen aufgebaut. Und in Partnerschaft mit der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ wird sich um eine erste medizinische Versorgung gekümmert.

New Yorker Verhältnisse drohen

Kaum eine Gruppe trifft die Corona-Krise so hart wie die Obdachlosen. In der Megametropole São Paulo leben zehntausende Menschen auf der Straße. Die genaue Zahl kennt niemand.

Einer davon ist Adalto Antônio, 50 Jahre alt, zahnloser Mund, FC Barcelona-Trikot. Vor mehr als 20 Jahren kam er aus dem Hinterland in die Megacity. Nachdem er vor einem Jahr seinen Job als Kesselschweißer verlor, landete er auf der Straße. Mit dem Beginn der Pandemie sei das Leben auf der Straße noch schwerer geworden. „Ich verdiene mein Geld mit Dosensammeln und Betteln“, sagt Antônio. „Das ist jetzt fast unmöglich, da viel weniger Menschen unterwegs sind und viele Angst vor uns haben.“

Das Virus breitet sich auch in den Favelas rasant aus. Der arme Stadtteil Brasilândia im Norden São Paulos führt die Rangliste der Corona-Toten an. In den Vierteln der Mittel- und Oberschicht gibt es zwar auch zahlreiche Infizierte, jedoch viel weniger Tote. Und es könnte noch schlimmer kommen: Am Sonntag erklärte São Paulos Bürgermeister Bruno Covas, dass das öffentliche Gesundheitssystem vor dem Kollaps stehe. Der größten Stadt Lateinamerikas drohen New Yorker Verhältnisse.

Neben den gesundheitlichen, machen sich auch die sozialen Auswirkungen der Pandemie bemerkbar. Fast 40 Millionen Brasilianer*innen arbeiten informell, den meisten dieser Arbeiter*innen ist mit der Krise ihr Einkommen weggebrochen. Laut der Bank Santander ist mit 2,5 Millionen neuen Arbeitslosen zu rechnen.

Der Mönch Costa beobachtet, dass mittlerweile nicht nur Obdachlose, sondern auch viele Arbeiter*innen und Vorstadtbewohner*innen Hilfe suchen. Vor dem Zelt haben sich auch an diesem heißen Herbsttag etliche Familien versammelt.

Lange Schlangen vor den Banken

Doch Mönch Costa sieht auch Positives. „Viele Menschen verschließen sich nicht länger vor dem Elend ihrer Mitmenschen. Die Solidarität hat zugenommen.“ Mehr Menschen spenden, mehr Freiwillige packen mit an.

Präsident Jair Bolsonaro stellt sich zwar in seinen Reden gerne auf die Seite der Arbeiter*innen, um gegen die von den Landesregierungen beschlossenen Isolationsmaßnahmen zu wettern. Doch viele Sozialprogramme wurden nach seinem Amtsantritt gekürzt, eine spezifische Politik für die Ärmsten gibt es in der Coronakrise nicht.

Nach Druck der linken Opposition hat der Kongress nun eine finanzielle Direkthilfe für informell Beschäftigte bewilligt. Etwas mehr als umgerechnet 200 Euro pro Person werden über drei Monate ausgezahlt. Das ist nicht viel, aber für die meisten armen Familien ist das zumindest ausreichend, um Essen und Miete zu bezahlen. An den Filialen der staatlichen Caixa-Bank bilden sich täglich lange Schlangen.

Antônio hat keine Möglichkeit, die finanzielle Hilfe zu beantragen, da er keine Ausweisdokumente hat. Deshalb kommt er auch morgen wieder zum Zelt der Solidarität.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Die Coronapandemie geht um die Welt. Welche Regionen sind besonders betroffen? Wie ist die Lage in den Kliniken? Den Überblick mit Zahlen und Grafiken finden Sie hier.

▶ Alle Grafiken

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.