Coronakrise in Brasilien: Virus trifft auf Armut
In São Paulo steigen die Infektionen, das Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps. Das trifft vor allem die Ärmsten in den Favelas und auf der Straße.
„Dort drüben steht unser Zelt der Solidarität“, sagt Costa und zeigt auf ein Konstrukt aus Metall und Plastik auf dem São Francisco-Platz in der Innenstadt von São Paulo. Hunderte Menschen stehen davor Schlange. Essen in Styropor-Behältern wird ausgeteilt, Hände werden desinfiziert, Mönche drängen sich durch das Gewusel.
Der vor rund 800 Jahren in Italien entstandene Franziskaner-Orden ist seit mehr als 500 Jahren in Brasilien aktiv. „Wir helfen schon immer denen, die am Rand der Gesellschaft sind“, sagt Costa. „Mit Beginn der Corona-Pandemie hat das Elend stark zugenommen.“ Laut Costa wurden vor der Krise täglich rund 800 Menschen versorgt, meist Obdachlose. Seit dem Ausbruch von Covid-19 im größten Land Lateinamerikas sind es täglich 2.600 Menschen. Brasilien hat bereits mehr als 16.000 Corona-Tote und eine der höchsten Ansteckungsraten der Welt.
Neben zwei warmen Mahlzeiten werden auf dem São Francisco-Platz auch Masken und Desinfektionsmittel verteilt. Die Stadtverwaltung hat mobile Toiletten und Duschen aufgebaut. Und in Partnerschaft mit der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ wird sich um eine erste medizinische Versorgung gekümmert.
New Yorker Verhältnisse drohen
Kaum eine Gruppe trifft die Corona-Krise so hart wie die Obdachlosen. In der Megametropole São Paulo leben zehntausende Menschen auf der Straße. Die genaue Zahl kennt niemand.
Einer davon ist Adalto Antônio, 50 Jahre alt, zahnloser Mund, FC Barcelona-Trikot. Vor mehr als 20 Jahren kam er aus dem Hinterland in die Megacity. Nachdem er vor einem Jahr seinen Job als Kesselschweißer verlor, landete er auf der Straße. Mit dem Beginn der Pandemie sei das Leben auf der Straße noch schwerer geworden. „Ich verdiene mein Geld mit Dosensammeln und Betteln“, sagt Antônio. „Das ist jetzt fast unmöglich, da viel weniger Menschen unterwegs sind und viele Angst vor uns haben.“
Das Virus breitet sich auch in den Favelas rasant aus. Der arme Stadtteil Brasilândia im Norden São Paulos führt die Rangliste der Corona-Toten an. In den Vierteln der Mittel- und Oberschicht gibt es zwar auch zahlreiche Infizierte, jedoch viel weniger Tote. Und es könnte noch schlimmer kommen: Am Sonntag erklärte São Paulos Bürgermeister Bruno Covas, dass das öffentliche Gesundheitssystem vor dem Kollaps stehe. Der größten Stadt Lateinamerikas drohen New Yorker Verhältnisse.
Neben den gesundheitlichen, machen sich auch die sozialen Auswirkungen der Pandemie bemerkbar. Fast 40 Millionen Brasilianer*innen arbeiten informell, den meisten dieser Arbeiter*innen ist mit der Krise ihr Einkommen weggebrochen. Laut der Bank Santander ist mit 2,5 Millionen neuen Arbeitslosen zu rechnen.
Der Mönch Costa beobachtet, dass mittlerweile nicht nur Obdachlose, sondern auch viele Arbeiter*innen und Vorstadtbewohner*innen Hilfe suchen. Vor dem Zelt haben sich auch an diesem heißen Herbsttag etliche Familien versammelt.
Lange Schlangen vor den Banken
Doch Mönch Costa sieht auch Positives. „Viele Menschen verschließen sich nicht länger vor dem Elend ihrer Mitmenschen. Die Solidarität hat zugenommen.“ Mehr Menschen spenden, mehr Freiwillige packen mit an.
Präsident Jair Bolsonaro stellt sich zwar in seinen Reden gerne auf die Seite der Arbeiter*innen, um gegen die von den Landesregierungen beschlossenen Isolationsmaßnahmen zu wettern. Doch viele Sozialprogramme wurden nach seinem Amtsantritt gekürzt, eine spezifische Politik für die Ärmsten gibt es in der Coronakrise nicht.
Nach Druck der linken Opposition hat der Kongress nun eine finanzielle Direkthilfe für informell Beschäftigte bewilligt. Etwas mehr als umgerechnet 200 Euro pro Person werden über drei Monate ausgezahlt. Das ist nicht viel, aber für die meisten armen Familien ist das zumindest ausreichend, um Essen und Miete zu bezahlen. An den Filialen der staatlichen Caixa-Bank bilden sich täglich lange Schlangen.
Antônio hat keine Möglichkeit, die finanzielle Hilfe zu beantragen, da er keine Ausweisdokumente hat. Deshalb kommt er auch morgen wieder zum Zelt der Solidarität.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste