Corona und die Fußball-EM: Sport als Zumutung
Die EM hat gezeigt: Der Fußball ist mächtiger als der Infektionsschutz. Auch die Olympischen Spiele in Tokio werden eine Risikoveranstaltung sein.
D ie Bilder, die uns diese Fußballeuropameisterschaft liefert, sind eine Zumutung. Auch diesen Sonntag werden wieder 65.000 Fans im Stadion von Wembley sein, wenn England gegen Italien um den Titel spielt. Die Bildregie, die im Auftrag der Europäischen Fußballunion Uefa darüber entscheidet, welche Szenen in unsere Wohnzimmer gesendet werden, wird immer wieder auch das Publikum zeigen. Wir werden sehen, wie die Menschen im Stadion bangen und wie sie sich herzen, wenn ein Tor gefallen ist. Es werden Bilder sein wie aus einer anderen Zeit, Bilder, die kaum auszuhalten sind.
Die Uefa wollte genau das. Sie wollte ein Turnier, das aussieht, als wäre da draußen nicht jenes Virus unterwegs, das die Welt seit anderthalb Jahren zu beherrschen versucht. Sie hat die Ausrichterstädte und -staaten erpresst und gegeneinander ausgespielt. Nur wer garantierte, Zuschauer:innen zuzulassen, durfte Spiele ausrichten.
Der Fußball hat den Infektionsschutz geschlagen. Er war mächtiger. Die Folgen sind bereits messbar. Die Europäische Gesundheitsbehörde ECDC, die das Turnier beobachtet, hat mehr als 2.500 Menschen gezählt, deren Coronainfektionen mit dem Turniergeschehen zu tun hatten. Sie haben Fußball in Stadien oder auf Fanmeilen verfolgt, waren infiziert von Russland nach Finnland unterwegs oder von Wembley nach Schottland.
Die schönsten Schwalben der letzten Jahrzehnte
Kann es das wert gewesen sein? Oder hält man das starke Infektionsgeschehen, so wie in Großbritannien, trotzdem für beherrschbar? Wer kann das schon sagen? Bei jedem Eigentor dieser EM, bei jeder umstrittenen Szene, bei all der Freude über den Sport, der da getrieben wird, schwingen diese Fragen mit. Sie sind es, die den Sportkonsum derzeit zu einer Zumutung machen. Von Deutschland aus mit dem Finger auf England und die Uefa zu zeigen, so wie es Innen- und Sportminister Horst Seehofer jüngst getan hat, ist indes zu einfach.
Fußball beherrscht Politik
Der Fußball hat auch hierzulande die Politik fest im Griff. Da müssen wackere Veranstalter:innen von kleinen Kultur-Events unter freiem Himmel immer wieder neue Hygienekonzepte erstellen und markieren mit Kreidekreisen die Orte, an denen sich die Freund:innen der kleinen Kunst aufzuhalten haben. Währenddessen wird entschieden, dass zum Bundesligastart im August wieder bis zu 25.000 Leute in die Stadien dürfen.
Und wenn die Uefa wirklich des Teufels ist, wofür ja nun wirklich einiges spricht, warum unterwirft sich Deutschland diesem Verband dann eigentlich und rollt ihm für die Fußball-EM 2024 gerade den roten Teppich aus? Die nächste Männer-EM im Fußball findet in Deutschland statt. Sie soll genau solche Bilder liefern, wie sie dieser Tage aus London gesendet werden.
Andere Bilder werden in drei Wochen von Tokio aus in die Welt geschickt. In Japan herrscht wieder Coronanotstand, und so blieb den Organisatoren und Verantwortlichen des Internationalen Olympischen Komitees nichts anderes übrig, als zu beschließen, keine Zuschauer:innen zu den Wettbewerben zuzulassen. Die Anreise von Olympiafans aus dem Ausland hat man schon länger untersagt.
Die Stimmung in Tokio vor den Olympischen Spielen
Alles gut also? Über 11.000 Sportler:innen aus wirklich aller Damen und Herren Länder werden zu den Spielen anreisen. Dazu kommen Trainer, Funktionäre und jede Menge Berichterstatter und Techniker von Medienunternehmen. Eine Fußball-EM ist im Vergleich dazu ein Zwergenevent. Danach stehen die Paralympics an, zu denen noch einmal mehr als 4.000 Athlet:innen erwartet werden. Nach Kontaktvermeidung sieht das nicht aus, auch wenn es Hygienekonzepte gibt.
Dass nach der Verschiebung der Spiele von 2020 in dieses Jahr nicht ernsthaft über eine Absage nachgedacht wird, liegt auch an der unheimlichen Macht des Sports. Will eine Stadt die Olympischen Spiele ausrichten, muss sie sich dem IOC unterwerfen, muss Milliarden investieren, um den Zuschlag zu bekommen. Dann sind es die Sportverbände, die den Regierenden die Regeln diktieren. Auch das ist eine Zumutung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Die Wahrheit
Glückliches Jahr
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten